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Der Graf hob die Tafel auf und die Halle leerte sich zusehends, doch Eichensang mache keine Anstalten zum Gehen, sondern suchte Arthens Blick. Sekunden vergingen – Sekunden, in denen der Herr der Burg eine Entscheidung traf. "Kommt mit!" Eichensang folgte Graf und Magier in die Räume der Gräfin, in denen es ruhig war und dämmerig. Die Dame saß auf einer Bank, zu ihren Füßen kniete Erislan, den Kopf im Gewand der Mutter vergraben und zitternd.
Als die drei Menschen eintraten, hob er sofort den Kopf, und als er Eichensang erkannte, ließ er ein kurzes Heulen hören, wandte sich dann aber wieder ab. "Wie alt ist er, Arthen?" "Drei Jahre alt, Harfnerin." Bitter lachte der Graf auf. "Ja, sie wachsen schnell, sehr viel schneller als wir."
"Wie kam es dazu?", fragte die Harfnerin. Und dann erzählte Graf Arthen die Geschichte seines Unglücks. Vor drei Jahren war der kleine Sohn noch im Wochenbett an der Brust seiner Mutter gestorben, niemand hatte etwas dagegen tun können. Die Gräfin war in eine Art Wahnsinn verfallen, sie wollte die kleine Leiche nicht bestatten lassen – wollte den Tod des Kindes nicht in ihr Bewusstsein dringen lassen. Sie schrie wie eine Wahnsinnige, wenn man das tote Kind berühren wollte, raste und tobte mit fast übermenschlicher Kraft. Es war abzusehen, dass sie ihrem Kind bald folgen würde, denn sie nahm nichts zu sich – ihre Lebenskraft nahm schnell ab.
Zu dieser Zeit brachte einer der Bauern einen kleinen Wolf in die Burg. Der Landmann hatte die Wolfsmutter getötet, als sie seine Schafe angegriffen hatte. Da er sah, dass er eine säugende Wölfin getötet hatte, folgte er der Spur und fand die Höhle mit dem Welpen, den er in das Schloss brachte, um ihn dem Grafen zu bringen. Für die Passwölfe gab es ein gutes Kopfgeld. Und da verfiel die Amme der Gräfin auf den Gedanken, das tote Kind durch den kleinen warmen Körper des Wölfchens zu ersetzen, sobald die Wöchnerin vor Erschöpfung einschlafen würde.
Tatsächlich gelang der Tausch und rettete wohl das Leben der verzweifelten Frau. Doch was als Übergang gedacht war, erwies sich als weiteres Unglück – denn die Frau sah nicht den Wolf, sondern ihr Kind. Und niemand konnte wagen, das Tier zu entfernen, ohne die Gesundheit und das Leben der Gräfin zu gefährden. Welchen Zauber der Magier angewendet hatte, um den Wolf in menschliche Gestalt zu transferieren und zu halten, vermochte Arthen nicht zu sagen – nur dass der Zauberer nicht mehr in der Lage war, die Magie umzukehren.
Und so begann eine Zeit des Kummers für alle. Arthen litt um seine Frau, diese litt um ihr Kind, und sogar Orens war verzweifelt über sein Versagen. Für ihn fühlte Eichensang nur geringes Mitleid, denn er hatte ein Gesetz verletzt, wenngleich nicht um seinetwillen. Als der Graf erschöpft schwieg, sein Gesicht in die Hände vergraben, entstand eine Pause, in der nur das Schluchzen der Gräfin zu hören war. Sie hatte nach und nach begriffen, was geschehen war, doch auch sie konnte nicht mehr zurück. Das Herz der Menschen ist voller Geheimnisse, und die Mutter hatte ihre Liebe auf das Wesen übertragen, das ihretwegen leiden musste. Die Jagd auf die Wölfe um die Burg war verboten seit jenem Tag, und das immerwährende Heulen des Rudels wurde hingenommen.
Orens hatte noch kein Wort gesagt, dafür sprach Eichensang zu ihm, und er hörte mit gesenktem Kopf zu und verteidigte sich nicht. Sein ungeheuerlicher Eingriff in die Ordnung hatte so ziemlich alles durcheinander gebracht. Das Gleichgewicht war grob gestört worden, und mit Sicherheit hatte auch das Wetter damit zu tun. Die Dinge waren in Aufruhr, und es war an der Zeit für ein Wiedergutmachen, soweit das möglich war.
In dieser Nacht schliefen weder die Harfnerin noch das Grafenpaar, nur Orens gab den Widerstand gegen den Wein in seinem Blut auf und schnarchte auf einer Bank – aber man würde ihn nicht brauchen für das, was getan werden musste. Und als der Morgen sich noch zaghaft gegen die Nacht stemmte, da verließen vier Gestalten die Burg. Es war nicht einfach, sich durch den kniehohen Schnee zu kämpfen, doch Eichensang war unerbittlich. Der Junge war hellwach, er sprang in sonderbaren Hüpfern durch den Schnee und gab fröhliche Laute von sich. Tatsächlich wirkte er wie ein verspielter Welpe.
Als die kleine Gruppe am Fuße des Passes angelangt war, wurde Erislan unruhig. "Wir werden kein Feuer machen können", sagte Eichensang. "Sie würden nicht in unsere Nähe kommen." Gegen den Widerstand der weinenden Mutter wurde der Junge ausgezogen und nackt in seinen Mantel gehüllt, dann in den Schnee gesetzt. Eichensang wusste, dass diese Aufgabe, die vor ihr lag, alles von ihr fordern würde: ihre ganze Kunst, ihr Wissen und ihre Kraft. Doch auch sie konnte nicht mehr zurück, sie hatte Wissen um ein Vergehen erlangt und konnte sich nicht davonstehlen. Und so begann sie zu spielen, mit geschlossenen Augen. Ton um Ton, Akkord um Akkord ließ das Spiel ihrer Harfe ein Weberschiffchen gleiten – wo Fäden zerrissen waren, wurden sie verbunden, wo das Muster falsch war, wurde es ausgebessert.
Die Töne der Erde nahmen ihren Platz ein im großen Muster und ersetzten das falsche Gewebe ... die Harfnerin nahm nichts wahr, ihr Auge sah flirrendes Licht wie von trudelnden Sternen und leuchtende Stränge auf schwarzem Grund. Und dann war alles grau und weiß, die Arbeit war getan und nichts konnte mehr geändert werden. Ein harter Griff an der Schulter holte Eichensang aus ihrer Versunkenheit – sie riss die Augen auf und spürte Arthens keuchenden Atem. Im Schnee stand ein junger Wolf mit leuchtend grünen Augen, halb von einem Umhang bedeckt. Er legte seinen schönen Kopf zurück und ließ ein langes Heulen hören, das vom Pass herunter beantwortet wurde.
Erislan schüttelte das Wollzeug vollends ab, dann schaute er sich um. Seine Ziehmutter sank weinend in den Schnee, warf furchtlos die Arme um hin. Einen Augenblick lang schmiegte sich der Wolf an die Menschenfrau, leckte ihr über das Gesicht und machte sich dann frei. Mit unergründlichem Blick sah er zu Arthen hin, dann zu Eichensang, die den Kopf neigte. Ein letztes kurzes Heulen – dann lief ein junger Wolf seiner Familie entgegen.
Nachdem Eichensang nach dem tagelangen Fieber wieder soweit hergestellt war, dass sie reisen konnte – niemand kann das Muster verändern, ohne dafür zu zahlen, weder im Guten noch im Bösen – forderte sie vom Grafenpaar einen Schweigeeid ein. Dem Magus erzählte man das Gleiche, was die Bauern zu hören bekamen, dass der junge Graf fortgelaufen war und man nie eine Spur von ihm gefunden hatte. Und Orens war tatsächlich klug genug, diese Geschichte niemals zu hinterfragen.
© Fantasy-Geschichte und Fotocollage zu "Schneesöhnchen": Winfried Brumma (Pressenet), 2011.
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