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Die Burg, in der die Harfnerin zwei oder drei Tage bleiben wollte, war seit dem vorigen Tag von der Außenwelt abgeschnitten. Es hatte heftig geschneit, viel zu früh eigentlich, und nun war kein Durchkommen mehr. Der dichte Schneefall und die plötzliche Kälte hatten etwas Unnatürliches, selbst hier in den nördlichen Provinzen. Aber es war nun einmal nicht zu ändern, und Eichensang fügte sich drein. Das fiel der Harfnerin leichter als den murrenden Händlern, die nun nicht weiterziehen konnten und über ihre Verluste klagten – denn ihr als Harfnerin wurde die volle Gastfreundschaft des Burgherrn zuteil. Den jammernden Krämern wurde weitaus weniger Aufmerksamkeit geschenkt.
Eichensang hatte man eine eigene Kammer zur Verfügung gestellt, und sie wurde zur Tafel des Grafen geladen. Auf diese Ehre hätte sie gerne verzichtet, denn der Hausherr war trotz seiner Höflichkeit nicht gerade von einnehmendem Wesen. Unfreundlich war Graf Arthen nicht, aber in sich gekehrt und kein guter Gesellschafter. Ihm lag nichts an Musik, und obwohl er die Harfnerin willkommen geheißen hatte, schienen seine Ohren verschlossen. Eichensang machte sich durchaus nichts daraus, denn alle anderen auf der Feste wussten das seltene Vergnügen, einen Harfner von Rang zu erleben, sehr zu schätzen.
Heute war der dritte Tag ihres Aufenthaltes, und sie hoffte auf eine baldigste Wetteränderung. Die Stimmung Arthens fing an, Eichensang auf das Gemüt zu schlagen – das war etwas, das sie ganz und gar nicht mochte. Was ihr am meisten missfiel, war Orens, der Magier des Grafen. Wieso um alles in der Welt ein Burgherr im Grenzgebiet meinte, sich einen eigenen Zauberer halten zu müssen, war der Sängerin ein Rätsel. Dieser hochmütige Mensch in der speckigen Robe und dem rötlichen Gesicht war ihr von Herzen unsympathisch. Er redete viel, ohne etwas dabei zu sagen, und sprach bei Tisch dem Wein zu, bis seine Vorträge anfingen, verschliffen zu klingen. Er genoss scheinbar eine Vorzugsbehandlung, denn er verhielt sich so, als wäre Arthen sein Bruder und nicht sein Herr.
Heute nun – so hatte sie von der Magd, die ihr zugeteilt worden war, erfahren – würden die Gräfin und ihr Sohn nach einer Unpässlichkeit zum ersten Mal seit Tagen wieder in die Halle kommen, das war wenigstens eine Abwechslung. Eichensang hoffte, dass die Gemahlin Arthens von anderer Natur war als ihr Gatte, und vor allem anders als dieser unverschämt anmaßende Hofmagus. Als am Abend dann das gräfliche Paar erschien, stand die Harfnerin höflich auf und begrüßte die Familie mit einer Verneigung und einigen wohlgesetzten Worten. Die Gräfin war um vieles kleiner als ihr Mann, und sehr bleich. Mit Sicherheit war sie einmal eine sehr schöne Frau gewesen, doch es sah aus, als habe ein großer Kummer tiefe Linien in ihr Gesicht gegraben. Sie ging langsam und stützte sich dabei auf den Arm eines Jungen von etwa 15 Wintern, der wohl ihr Sohn war. Der Knabe hielt sich sehr eng an seine Mutter und hielt den Kopf gesenkt, er sprach nicht und setzte sich stumm an die Tafel.
Etwas an dem Jungen war sonderbar, seine Bewegungen waren auffallend linkisch. Und als er dann doch aufsah, weil er Eichensang endlich wahrnahm als fremdes Element in der Nähe des Grafenpaares, hatte die Harfnerin Mühe, ihr Erschrecken zu verbergen. Das blasse Gesicht mit den leicht schräg stehenden Augen verriet nichts als Leere, kein Ausdruck zeigte sich. Das struppige Haar wuchs dem Jungen bis tief in die Stirn, fast bis auf die starken Brauen, die über der Nasenwurzel zusammenwuchsen. Die Nasenflügel bebten, dann wandte sich der Junge ab und schmiegte sich sofort wieder eng an die Gräfin. Die streichelte ihren Sohn und schalt ihn zärtlich: "Begrüße unseren Gast, Erislan. Harfnerin Eichensang ist sehr freundlich und wird für uns singen."
Die so Vorgestellte beeilte sich nun ihrerseits einige freundliche Worte an den Jungen zu richten, so als ob alles in bester Ordnung wäre. Dafür wurde sie mit einem sonnigen Lächeln der Gräfin belohnt. "Er ist ein wenig schüchtern, müsst Ihr wissen. Hierher kommen nicht sehr oft Fremde und er braucht immer ein wenig Zeit, um sich an neue Gesichter zu gewöhnen." Bei diesen Worten stieg Eichensang etwas heiß in die Kehle, und Mitleid verdrängte alles andere. "Sie weiß es nicht", dachte die Harfnerin, "sie weiß es nicht, oder sie will nicht wissen, dass ihr Sohn schwachsinnig ist. Und niemand wagt es, ihr das zu sagen."
Aber während des Mahles beobachtete Eichensang unauffällig den jungen Erislan, und wurde in ihrer Gewissheit ein wenig wankend. Denn der junge Graf mochte tumb wirken, etwas an ihm verriet immerwährende Aufmerksamkeit. Eichensang wurde das Gefühl nicht los, dass er genau wusste, dass sie ihn betrachtete. Sein ganzer Körper war angespannt, so wie vielleicht bei einem fluchtbereiten Tier. Außer bei seiner Mutter reagierte der Junge auf alle Bewegungen der in der Nähe sitzenden Menschen mit kleinen, ausweichenden Gesten. Ob der Graf den Becher hob oder dieser Magier mit weit ausholenden Gebärden schwafelte – Erislan reagierte sofort darauf. Und seine Nasenflügel bebten ständig, so als wolle er durch sie seine Umgebung wahrnehmen und unter Kontrolle halten, denn den Kopf hob er nicht.
Nur ein einziges Mal sah der Junge auf, nämlich als Orens an unpassendster Stelle laut und unmelodisch lachte. Der blitzschnelle Blick auf den Magus enthielt so viel Hass und Angst, dass Eichensang erschrak. Für einen kurzen Moment, bevor Erislan wieder den Kopf senkte, waren die Augen voller Leben gewesen. Etwas stimmte hier nicht, etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Und Eichensang fand den Magier widerlich genug, um herausfinden zu wollen, was es war. Denn mit diesem aufgeblasenen Weinschlauch hing es zusammen, das sagte ihr der in vielen Jahren geschärfte Instinkt.
Als der Graf ihr mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass nun Zeit für ein wenig Unterhaltung war, strich sie prüfend über ihr zurückgebundenes graues Haar und schlug einen Akkord an, dann einen weiteren. Sie ließ eine ganze Folge in Moll hören und begann dann mit dunkler, weicher Stimme ein Lied. Doch dann brach sie plötzlich ab, denn ein Ton durchschnitt die Luft der Halle. Ein Ton, der durch ihren Körper fuhr und sich um ihr Herz legte, unheimlich und schrecklich klagend. Auf dem Steinfußboden kniete der Sohn des Grafen, mit geschlossenen Augen und zurückgeworfenem Kopf, und ließ einen der schrecklichsten Töne von seinen Lippen, den Eichensang jemals gehört hatte.
Der Graf war aufgesprungen und wies mit herrischer Gebärde seine Gemahlin an, den Jungen wegzubringen. Der Magier kam schwankend auf die Füße und wollte Erislan hochzerren, doch die Mutter warf sich über ihn und stieß den Halbbetrunkenen weg. Schließlich wurde der Junge hinausgebracht, doch er schlug um sich und heulte in einem fort, die grünen Augen auf Eichensang gerichtet.
© Fantasy-Geschichte und Abbildung zu "Schneesöhnchen": Winfried Brumma (Pressenet), 2011.
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