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Eigentlich hätte sie ja auch eine Therapie machen sollen, die böse Stiefmutter, welche das arme hübsche Kind in den Wald jagen ließ. Natürlich hatte sie einen weitaus schlimmeren Plan, aber er kam ja nicht zur Ausführung. Wahrscheinlich war die Dame von purer Selbstverliebtheit gebeutelt, hatte womöglich eine schlimme Kindheit. Also sollte man Gnade walten lassen und die Gute einfach aus dem Schloss jagen, vielleicht kommt sie noch als Model unter, schließlich ist sie ja die Zweitschönste im ganzen Land.
Wenn alle Stränge reißen, könnte sie ja auch ihre Memoiren schreiben, so etwa in der Art "Mein Leben als Königin" und was danach kam. Irgendein Frauenblatt kann das dann in mehreren Teilen veröffentlichen, und dann sind mit Sicherheit Auftritte in allen möglichen Talkshows die Folge. Sie könnte mit anderen Frauen, die unter dem Stiefmutter-Syndrom leiden, diskutieren und sich zu einer gefragten Beraterin entwickeln. Schließlich hat sie einiges zu bieten, ganz im Gegensatz zu ihrer langweilig braven Stieftochter, der sie dann aber doch alles Glück der Erde wünscht, weil das auf jeden Fall publikumswirksamer ist. Die designierte Königin (klingt besser als "rausgeworfene" Königin) ist unter dem Strich sehr viel interessanter als die kreuzbrave und farblose angeheiratete Verwandtschaft.
Seien wir ehrlich, gewisse Typen sind durchaus notwendig – jedes Stück muss ja mit eindeutig ausgewiesenen Charakteren besetzt sein – aber kann es sein, dass es Zeit wird, gewisse Dinge oder Personen einmal zu hinterfragen? Nehmen wir doch diesen König Drosselbart. Zwar ist seine angebetete Prinzessin eine fürchterliche Zicke, aber ist sie daran alleine schuld? Vermutlich ist das Prinzesschen von Paps dermaßen verwöhnt worden, dass es gar nicht anders kann, als unangenehm aufzufallen. Es ist anzunehmen, dass Blondlöckchen jede Sozialkundestunde schwänzen durfte, wenn es mit dem zierlichen Füßchen aufstampfte.
Und ist es vielleicht fair, sich als Bettler auszugeben, um der Kleinen auf die rüdeste Weise etwas über den Klassenkampf beizubringen? Das hätte man auch anders handhaben können. Alle haben immer gedacht "geschieht der eingebildeten Tussi recht", als sie jedes Kupferstück umdrehen musste, um zu überleben – aber die Selbstverständlichkeit, mit der ihr Gatte sie an den Rand ihrer körperlichen Kräfte bringt, ist nicht gerade politisch korrekt. Dieser Macho macht sich nämlich einen Spaß daraus und denkt, dass am Schluss, wenn er sich zu erkennen gibt, alles eitel Glück und Wonne ist. Sie war ja so dankbar, die Kleine. Endlich wieder schöne Kleider, fließend heißes Wasser und das alles. Aber wahrscheinlich hat sie es ihn büßen lassen, den selbstherrlichen Kerl. Bei näherem Hinsehen kommt einem der schlaue Blaublüter gar nicht mehr so nett vor.
So richtig kommt das in dem alten DEFA-Film mit Manfred Krug als König Drosselbart zum Tragen, denn da lässt der Macho mit der Krone so richtig die sozialistische Sau raus und wirkt sehr unsympathisch und oberlehrerhaft. Es wird wohl so ausgegangen sein, dass die Königin ihm die gemeinsamen Kinder entfremdet hat und sich dann mit ihnen in irgendeine Kolchose abgesetzt hat, um sie zu übernehmen. Ihre Erfahrungen als Töpferin und Straßenhändlerin sind da unschätzbar. Nach der Scheidung heiratet der König dann die Siegerin der neuesten Staffel von "Deutschlands Supermodel", was ihm recht geschieht.
Eigentlich sollten wir uns, als pflichtbewusste Bürger, auch fragen, wieso ein abgebranntes Ehepaar kurzerhand seine Kinder aussetzen kann. Dann werden die Kleinen wieder aufgenommen nach Wochen in der Wildnis, weil sie ja schließlich jede Menge Klunker mitbringen, die man verkaufen kann, und niemand, aber auch niemand informiert die Behörden. Leider ist es so, dass der Märchenleser nicht allzu viel über die pflichtvergessenen Eltern erfährt. So bleibt im Dunkeln, was nach der Heimkehr der Kinder geschieht. Wie lange wird das Geld wohl reichen, bleiben die Geschwister tatsächlich bei diesen unmöglichen Erzeugern, die billigend ihren Tod in Kauf genommen haben?
Was wird passieren, wenn Papa die Kohle an irgendeinem Spielautomaten verzockt, müssen die zwei dann wieder in den Wald? Alleinlebende verschrobene alte Frauen, die etwas auf die Seite gelegt haben, gibt es nicht allzu viele im öffentlichen Forst. Es ist schon erstaunlich, dass der Tod der Alten nicht aufgefallen ist – zwar war es tatsächlich Notwehr, die das Kind dazu trieb, die Frau zu verbrennen – aber sollte das Ganze nicht doch aufgearbeitet werden? Was soll aus diesen Kindern werden, die glücklich sind über den Tod einer, wenn auch nicht gerade netten alten Frau, und dann mit ihren unfähigen Eltern ihre Beute teilen? Psychologen stehen da wohl kopf.
An den ganzen schlimmen Dingen, die jungen Leuten in diesen Geschichten widerfahren, sind sowieso die Eltern schuld, so wie dieser alte Mann, der es tatsächlich fertigbringt, drei Jungs aus dem Haus zu werfen, weil sie die Milchziege nicht richtig gefüttert haben. Zwar kommen die Kerle in der Welt herum und bringen auch einiges mit nach Hause – so nützliche Sachen wie ein weiteres Haustier, das allerdings Geld produziert, einen automatischen Leuteverprügler und eine selbsttätige Festtagstafel. Das sagen sie jedenfalls – wahrscheinlicher ist aber, dass die unerfahrenen jungen Männer sich irgendeinen Trödel haben andrehen lassen und das nicht zugeben wollen. Das tägliche Hüten von einer einzigen Geiß hat sie wohl nicht genügend auf das Leben vorbereitet. Es muss die gesamte Familie auch etwas verschroben gemacht haben, denn was soll man von Leuten halten, die mit Ziegen reden.
Ob die Männerwirtschaft lange überlebt hat, wird nicht erzählt, aber man muss wünschen, dass so bald wie möglich eine Frau ins Haus gekommen ist, um da so etwas wie Ordnung hineinzubringen in den ganzen gesammelten Plunder, und dafür sorgt, dass alle zu einem Psychologen gehen, damit diese Streitgespräche mit Haustieren aufhören.
© Textbeitrag "Märchen und deren Hintergrund: König Drosselbart": Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Bildnachweis: Schneewittchen, CC0 (Public Domain Lizenz).
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