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Was habe ich nicht schon alles gesehen, und wo bin ich nicht schon überall gewesen. Ich bin Transporteur von Beruf und ich muss sagen, es ist weniger ein Job als vielmehr eine Berufung. Als ich noch ganz jung war, wurde ich mit einem Auftrag in ein Haus geschickt und machte da erst mal lange Station. Fit war ich, wissen Sie, und noch voller Tatendrang.
Die Reise hatte mir Spaß gemacht, und ich hatte unterwegs so viele Kollegen getroffen, mit denen ich mich austauschen konnte. Meine Konstitution ist sehr gut, ich habe eine äußerst starke Haut und meine Größe ist überdurchschnittlich, möchte ich mal sagen. Das half mir bei meiner Karriere auch ungemein, denn diese Eigenschaften sind sehr nützlich in meinem Metier. Niemand möchte nur einen Job machen und dann irgendwo in einem dunklen Winkel versauern, dazu ist die Welt viel zu interessant und abenteuerlich.
Damals konnte ich es kaum erwarten, mich zu beweisen. Kollegen hatten mir erzählt, wie schön es ist, wenn man so richtig herumkommt, was man alles sieht und lernt. Natürlich gibt es auch Blessuren, das ist klar – ich habe Veteranen kennen gelernt, die so dicke Bandagen trugen, dass man meinen könnte, sie werden nur noch davon zusammengehalten. Aber das ist nun mal der Preis, wer etwas leistet, kann nicht ewig glatt und jung aussehen. Nachdem ich also meinen ersten Auftrag erledigt hatte – sehr nette Leute waren das – hing ich eine Zeit in der Warteschleife. Es war Weihnachten gewesen und es gab in dem Haus eine recht bequeme Unterkunft, wo noch andere meinesgleichen waren. Ich kann nicht sagen, dass mir die Warterei übermäßig schwerfiel, denn ich habe gerne Gesellschaft und höre gerne etwas Interessantes.
Vieles von dem, was ich weiß, habe ich von erfahrenen Kollegen gelernt, die schon viel herumgekommen sind, das gebe ich gerne zu. Unter uns gibt es keinen Neid oder Konkurrenzkämpfe, dazu ist das Leben viel zu kurz. Außerdem will keiner Verletzungen riskieren, das schadet nämlich dem Beruf. Der Schnee war schon verschwunden, das weiß ich noch – als ich hervorgeholt und mit einem neuen Auftrag betraut wurde. Ich war vor Aufregung ganz kribbelig, aber das lässt man sich in unserem Metier natürlich nicht anmerken. Dann ging es auf eine herrlich lange Reise, von einem Ende des Landes zum anderen. Und als ich ankam, wurde ich mit einer solchen Freude begrüßt, dass mir richtig warm ums Herz wurde. Auch da gab es eine Station zum Ausruhen, aber es dauerte gar nicht lange, bis ich wieder losgeschickt wurde. Und seitdem machte ich Tour auf Tour, mal mit äußerst empfindlichen Sachen und mal mit irgendeinem überflüssigen Kram – die Abwechslung macht viel aus im Beruf.
Ich habe, das kann ich behaupten, vornehme Residenzen von innen gesehen und ich wurde auch schon von Kindern beschmiert und mit Kaffee vollgetropft. Da könnte ich Ihnen Dinge erzählen ... da gab es diesen unerzogenen Hund, der doch tatsächlich das Beinchen an mir hob, als ich gerade diesen Flur betreten hatte. Dem Besitzer war das sehr peinlich, er scheuchte das unerzogene Vieh fort und brummelte: "Den brauche ich doch noch." Ein anderes Mal glaubte eine Katze, meine Außenhaut mit ihren Krallen prüfen zu müssen, und ich denke mit Entsetzen an diese Kinder, die mit ihren Malstiften über mich herfielen. Sicher, bunt ist ja nichts Schlechtes ... aber Sie hätten sehen sollen, was für Tattoos die mir da verpasst hatten. Lange musste ich mich dann nicht darüber aufregen, denn die immer wieder neuen Bandagen verdeckten die ohnehin schnell verblassenden "Kunstwerke" mit der Zeit.
Tatsächlich gelang mir dann der Einstieg in einen Traumjob, bei dem es sich um ein sehr großes Auktionshaus handelte. Von da an ging es mit den Aufträgen sehr rasant, kaum hatte ich meine Waren abgeliefert, wurden mir schon neue anvertraut. Von Ruhephasen konnte nicht mehr die Rede sein. Einmal ist es sogar vorgekommen, dass ich ein Haus zum zweiten Mal betrat – der Empfänger konnte sich natürlich nicht an mich erinnern, ich mich aber schon.
In der letzten Zeit allerdings fühle ich mich müde, meine Gesundheit ist nicht mehr die beste und ich wollte, ich könnte zwischen den Aufträgen eine Zeit lang ausruhen und mit Kollegen schwatzen, die man so in den Häusern trifft. Früher war das anders, da konnte ich es kaum erwarten, wieder auf Tour zu sein. Gerade gestern, als man mir wieder eine Menge Sachen anvertraut hatte, hörte ich eine Frau sagen: "Der hier fällt aber wirklich bald auseinander, aber diesmal wird es wohl noch gehen." Erst durchfuhr mich ein Schrecken, aber ich weiß, dass sie Recht hat. Dies ist also mein letzter Auftrag, meine letzte Reise. Aber ich beschwere mich nicht, denn ich kann auf eine lange Karriere zurückblicken.
Nicht viele von uns halten so viele Monate durch, in meinem Fall sogar über ein Jahr, in dem ich treu und sorgfältig meine Pflicht tat. Manche haben in ihrem Leben nur eine einzige Aufgabe und gehen dann schon zum großen Schredder. Oder sie vegetieren lange Zeit einsam auf einem Dachboden dahin – nein, da bin ich weitaus besser dran. Mein Leben war lustig, abenteuerlich und schnell, immer auf der Überholspur, und ich habe so viel gesehen dabei. Aber bald werde ich ausruhen für immer. Und den jungen unter uns gebe ich den Rat: Wenn ihr ein schönes Leben haben wollt, wenn ihr risikobereit seid und gerne rumkommt, dann werdet ein Versandkarton.
© Textbeitrag "Erinnerungen eines Reisenden: Der Traumjob": Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
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