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Sie hatte schon als ganz kleines Mädchen den Dingen gerne Namen gegeben – nicht nur ihren Puppen, Stofftieren und Teddybären. Sobald sie etwas mochte, hielt sie das betreffende Teil für lebendig. Ihre Eltern lächelten darüber, und die ältere Schwester zog sie damit auf. Die Welt ihrer Kindheit war von unzähligen interessanten Persönlichkeiten bevölkert, und sie alle hatten Namen. Ihr Dreirad hatte einen, ihr Sandkasteneimerchen, ihre Disney-Nachttischlampe und ihr erster Schulranzen natürlich auch. Sie war fest davon überzeugt, dass in all diesen sie umgebenden Dingen so etwas wie eine Seele wohnte, oder vielleicht eher ein Geist.
Schon als ganz kleines Kind klatschte sie entzückt in die Hände, wenn sie sah, dass Regentropfen in eine Pfütze fielen, weil sie die winzigen Krönchen, die sich dadurch bildeten, für so etwas wie kleine Lebewesen hielt, die tanzten. Die Erwachsenen lächelten wohlmeinend dazu und sagten: "Das Kind hat zu viel Phantasie." Als sie eingeschult wurde, gab sie ihre besondere Sicht der Dinge nicht auf, nur sprach sie nicht mehr darüber. Das anfänglich noch amüsierte Lächeln hatte nämlich einer gewissen Strenge Platz gemacht. Die Schule war eine ernste Sache, und sie war schließlich "ein großes Mädchen".
Als später die ersten Verabredungen wichtig wurden, vergaß sie vieles und gab eigentlich nur den allerwichtigsten Dingen in ihrem Leben Namen. Das erste gebrauchte Auto zum Beispiel hatte natürlich einen Namen, und nur dieser Tatsache und der freundschaftlichen Beziehung zu diesem Vehikel war es zu verdanken, dass es die junge Frau niemals im Stich ließ – wie schwarzseherische Bekannte prophezeit hatten – und recht lange durchhielt. Das war jedenfalls die kaum vor sich selbst zugegebene Gewissheit der Fahrerin.
Mit fünfundzwanzig Jahren verließ sie ihr Elternhaus gegen den elterlichen Widerstand, um in einer anderen Stadt eine Arbeit anzunehmen und zu leben. Mutter hatte geweint, die schlimmsten Unglücksfälle vorhergesehen und abwechselnd geschmeichelt und beleidigt. "Du bist doch nicht imstande, dein Leben in den Griff zu bekommen", oder: "Wir haben doch nur noch dich", wechselten in stetiger Folge ab und verstummten nicht einmal, als die junge Frau den Kofferraum ihres Wagens schloss und nach einer heftigen mütterlichen Umarmung den Wagen startete, um ein eigenes Leben zu beginnen.
Die Wohnung war klein, alt und recht eng. Das Haus war renovierungsbedürftig, vor allem was die Installationen betraf – aber die Miete erfreulich niedrig und die Gegend nicht schlecht. Freunde hatte sie noch keine gefunden, was ihr kaum etwas ausmachte. Es machte Spaß, diesen Palast des selbstbestimmten Wohnens herzurichten, zu dekorieren und für sich passend zu machen. Der Boiler im Badezimmer war ein uraltes Monstrum, das, wie der Vermieter entschuldigend sagte, "erst überredet werden" musste. Sie hatte gelacht bei diesen Worten, denn daran sollte es nicht scheitern, wie sie bei sich dachte.
Und tatsächlich bequemte sich das alte Ding mit dem schäbigen Emaille-Überzug nur ungern dazu, eine kleine blaue Flamme zu produzieren, um die Prozedur des Wassererhitzens in Gang zu setzen. Man musste den Zündungsknopf drehen – über einen gewissen Druckpunkt hinaus – wobei dann ein Funke entstand, der das in kleiner Menge austretende Gas entzündete. Allerdings war das eher theoretisch, denn meist musste man mindestens zwanzigmal zünden, bis eine Flamme entstand, die zudem sofort wieder erlosch, wenn man zu schnell auf Normalbetrieb schaltete. Es kam nicht selten vor, dass die junge Frau auf ihr Bad verzichten musste oder die Zähne mit warmem Wasser aus der Kaffeemaschine putzte. War der Boiler dann endlich doch angesprungen, stellte er zuweilen mitten beim Haarewaschen den Dienst ein, was einen unangenehmen Schwall kalten Wassers zur Folge hatte.
Als sie eines Abends im Bad stand und das Emaille-Ungetüm betrachtete, fiel ihr auf, dass die Frontseite des Boilers wie ein Gesicht aussah. Die Öffnung, in der die blaue Flamme züngelte und sich manchmal zu einem fauchenden kleinen Brand entwickelte, konnte ein offener Mund sein, der runde Bedienungsschalter war die Nase und der Schriftzug der Firma oben rechts ein geschlossenes Auge. Der große dunkle Fleck, wo das Schmelzglas abgeblättert war und der dem Firmenlogo gegenüberlag, sah wie ein offenes Auge aus. Sie lachte und sagte: "Du bist wohl ein neckischer Typ, wie? Blinzelst mir zu." Dann fiel ihr die Ähnlichkeit mit Thomas auf, einem Porzellanclown, der in der Wohnzimmervitrine gestanden hatte und mit tragikomischem Gesichtsausdruck ewig jedem zugeblinzelt hatte, bis er irgendwann in Scherben gegangen war. Sie hatte ihn so genannt, weil er einen edel aussehenden silbernen Aufkleber auf dem linken Knie hatte mit diesem Namen darauf – es war wohl der Hersteller, aber sie hatte gemeint, dass der Name passte.
An diesem Abend hatte sie Glück, denn Thomas, der Boiler, bequemte sich schon nach zehn Versuchen dazu, den Dienst aufzunehmen und fiel nicht mitten beim Baden, sondern erst kurz danach aus. Am nächsten Morgen dann sagte die junge Frau: "Thomas, du wirst doch heute Morgen nett sein, oder? Ich bin ziemlich spät dran." Und Thomas war nett, was bedeutete, dass er nur etwa fünf Zündungsversuche brauchte, um anzuspringen.
Die nächsten Wochen verfiel sie immer mehr in die Gewohnheiten ihrer Kindheit, sie sprach mit dem Heißwasserbereiter so, als wäre er lebendig. Sie sprach von der Arbeit, erzählte von ihrem Ärger oder den vielen kleinen Gegebenheiten ihres Alltags, wenn sie das Bad benutzte. Thomas seinerseits hatte kaum noch Ausfälle, es kam sogar immer öfter vor, dass sie gar nicht neu zünden musste, wenn sie heimkam, weil die Flamme noch brannte. Ohne darüber nachzudenken, tätschelte sie die glatte, emaillene Haut des Boilers und nannte ihn: "Guter Junge! Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann", und was dergleichen Freundlichkeiten mehr sind, wenn jemand nett zu einem ist.
Sie gewöhnte sich an, erst einmal zu Thomas hineinzuschauen, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam und ihm einen guten Abend zu wünschen. Morgens nahm sie ihren Kaffeebecher und ihr Brötchen mit zu ihm hinein und plauderte beim Frühstücken mit ihm. Es war immer warm im Bad, dafür sorgte ihr blinzelnder Freund, der im Übrigen keine Ausfälle mehr hatte. Außer einigen wenigen Malen, wenn die Frau spät dran war morgens und nicht lange im Bad geblieben war, was zur Folge hatte, dass Thomas sich so abweisend verhielt wie zu Anfang, war alles sehr harmonisch.
Auf der Arbeit begann sie einer Kollegin, zu der sie etwas mehr Kontakt hatte, von Thomas zu erzählen. Die andere hatte gefragt, ob es da jemanden gäbe ... und spontan hatte die junge Frau gesagt: "Ja, Thomas", und dabei gelächelt. Er warte auf sie, umgebe sie mit Wärme und sei immer für sie da. Die Kollegin sagte, dass sie das schön fände und sprach von ihrem Verlobten, der leider so ganz anders sei und lieber mit seinen Kumpels herumhänge.
Als die junge Frau heimkam an diesem Abend, begrüßte sie zuerst Thomas, dann machte sie sich ein kleines Abendessen, das sie im Bad einnahm, wie immer in letzter Zeit. Thomas' kleine blaue Flamme brannte stetig und beruhigend, und so sahen sie beide einen Film im Fernsehen an. Sie hatte das kleine Gerät in das Bad gestellt, so dass sie sich beim Sehen mit Thomas unterhalten konnte – der Hauptspaß bei einem guten Film war das Unterhalten darüber. Wenn die Sendung zu Ende war und die große alte Wanne mit den Klauenfüßen wieder richtig trockengerieben, dann holte die Frau ihr Bettzeug, um es darin auszubreiten. Es war beruhigend, das stete Summen der Flamme zu hören, es war Thomas' Art, sie in den Schlaf zu flüstern.
Ihren ersten Urlaub verbrachte sie fast nur in ihrem Bad, sie hatten eine Menge Spaß miteinander – Thomas und die junge Frau. Der Rest der Wohnung war weit entfernt, das kleine Wohnzimmer staubte zu. Die winzige Küchenzeile wurde nur noch selten benutzt, denn das Bereiten einer warmen Mahlzeit hinderte am Zusammensein mit Thomas. Das Aufstellen einer Kochplatte scheiterte an den geringen Platzverhältnissen im Bad, und so begnügte sich die junge Frau mit Broten, oder auch Pizza, die sie bestellte. Es war eine wundervolle Zeit, und beide waren sehr glücklich.
Am Morgen des ersten Arbeitstages fragte der Hausmeister nach dem Wohnungsschlüssel, da eine Installationsfirma käme, um einige Reparaturen durchzuführen. Sie stimmte zu – und als sie am Abend heim kam, wartete der Mann auf sie, stolz darauf, dass er eine gute Nachricht für alle Mieter habe – wie er sagte. Dann stieß er mit einem lauten "Tataaaa" die Badezimmertür auf und meinte: "Überraschung!" Über der Wanne hing ein kleiner, moderner und blendendweißer Gasdurchlauferhitzer.
Er wisse nicht, sagte der Hausmeister später der Tränen überströmten Mutter der jungen Frau, wieso die sonst so ruhige und angenehme Mieterin plötzlich so völlig ausgerastet war. Sie habe ihn an der Kehle gepackt und geschrien und geschrien – er habe sich nur mit Mühe befreien können und sofort die Polizei gerufen. "Vielleicht", so sagte er noch, "vielleicht hat sie das Alleinsein nicht mehr ertragen."
© "Mein Freund Thomas": Erzählung von Winfried Brumma (Pressenet), 2011.
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