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Es gibt Bücher, die liest man und unterhält sich gut, legt sie dann weg und vergisst sie. Dann gibt es Bücher, die "nachwirken" – und das für sehr lange Zeit. Das muss nicht heißen, dass sie einem sehr gut gefallen haben oder brillant geschrieben sind, obwohl es sich meist so verhält ... es heißt aber mit Sicherheit, dass irgendetwas an der Geschichte sie unvergesslich macht.
"Das Bild" von Stephen King (Originaltitel: "Rose Madder") ist so ein Buch. King versteht es grundsätzlich hervorragend, Dinge auf eine beiläufig wirkende Art äußerst intensiv zu beschreiben, was in dem Genre, das ihn bekannt machte, von großem Vorteil ist. Er weiß um ganz banale, alltägliche Dinge und flechtet aus ihnen seine Geschichten.
In "Das Bild" gibt es allerdings keine klassische Einführung, in der alles vorbereitet wird für den eigentlichen Erzählstrang, sondern der Leser wird geradezu in eine fürchterliche Szene katapultiert. Schon bei den ersten Sätzen lernt er Rosie Daniels kennen – eine Frau, die gerade wieder einmal von ihrem Mann schwer misshandelt wird. Sie befindet sich auf dem Fußboden und versucht verzweifelt, sich nicht zu übergeben, weil das neuerliche Misshandlungen zur Folge hätte.
Die ungeheuerlichen Dinge, die dann ausgebreitet werden wie eine schimmlige Flickendecke – die Fehlgeburt nach den Fausthieben, die Misshandlungen und viele andere Demütigungen mehr – fesseln geradezu an die Geschichte. Rosie hat aufgegeben, so scheint es ... eigentlich wartet sie nur noch darauf, dass es wieder aufhört.
Aber diesmal ist es anders, denn am nächsten Morgen, als sie ihre gewohnte Routine aufnehmen will, findet sie auf dem Laken einen winzigen Blutfleck – sie hat wahrscheinlich aus der Nase geblutet, ohne es im Schlaf zu merken. Rosies Gedanken, die um diesen Blutfleck kreisen wie ein Welpe um eine heiße Kartoffel, sind verstörend nachvollziehbar. Sie verlässt das Haus, ohne sich auch nur umzuziehen, nimmt die Kreditkarte ihres Ehemannes und läuft ... läuft kilometerweit. Ihre Blase drückt, und sie muss sich irgendeine Ecke suchen, was nicht einfach ist in einer Vorstadt am hellen Tag – und für eine Frau erst recht nicht.
Irgendwann besteigt sie einen Überlandbus und fährt in eine andere Stadt, wo sie in einem Frauenhaus unterkommt. Aber ihr Ehemann ist Polizist, und er ist völlig verrückt. Norman Daniels ist ein Psychopath, der ganz bestimmte Meinungen über Frauen, Schwarze, Latinos und Normalbürger hat. In seiner Kindheit misshandelt und missbraucht, bewegt sich Norman in einem eigenen Kosmos, der völlig von Machtvorstellungen beherrscht wird. Und er hat einen siebten Sinn – er sucht die Flüchtige und er wird sie finden. Er ist zum Mörder geworden, was Rose ahnt und was ihr wahrscheinlich den Gedanken an Flucht erleichtert hat – sie weiß, dass er sie ebenfalls irgendwann töten wird.
Mit Hilfe der Frauen an ihrem Zufluchtsort findet Rose Freundinnen, einen Job, und sie lernt einen wirklich sehr netten Mann kennen – und dann findet sie dieses Bild bei einem Pfandleiher. Ein sonderbares Gemälde, das einen antiken Tempel und eine blonde Frau in einem kurzen griechischen Gewand zeigt. Dann überschlagen sich die Ereignisse und das Bild wird zu einem Tor in eine andere Welt – in die Welt der Göttin, die vergelten kann. Norman hat sich Urlaub genommen und hinterlässt eine blutige Spur auf seiner Suche, aber dann muss er sich der alles vergeltenden Kraft stellen, die Rose mittlerweile zur Seite steht ... ein unglaublicher Showdown beginnt.
Stephen King beherrscht das Jonglieren zwischen der Beschreibung von Kleinigkeiten und dem Malen von Horrorbildern meisterhaft – und er verflechtet diese Elemente auf eine eindringliche Art. Als Rose sich zu einer neuen Haarfarbe und Frisur entschließt, wird beschrieben, welche Schwierigkeiten sie beim Neuflechten des komplizierten Zopfs hat. Man mag Rosie, die sich verliebt hat und sehr unsicher ist, aus Angst etwas falsch zu machen ... und so erzählt King auch, wie Norman Daniels die Freundin der Heldin tötet. Kleine Dinge geschehen – solche, die jeder von uns kennt ... und das Grauen läuft immer nebenher. Das Ende ist kein Märchen, sondern wieder eine Geschichte für sich, obwohl es gewissermaßen gut ausgeht, wenn auch nicht unbedingt für den Mann, den sie liebt.
Was Stephen Kings Buch unter anderem so wichtig macht, ist die Art und Weise, wie das Leiden Rosies beschrieben wird, und wie Norman das, was er tut, für sein absolutes Recht hält, wenn nicht sogar für seine Pflicht. Einer seiner Dämonen ist sein Vater, mit dem er in seiner Einbildung spricht und den er hasst und, nach all den Jahren, immer noch fürchtet. Als Norman die Kontrolle völlig verliert, richtet er sich nach den Anweisungen, die ihm sein Dad gibt, direkt in seinem Kopf – und er gehorcht meist.
Die Horrorelemente gehören zum Genre, keine Frage – aber auch wenn sie völlig fehlten im Buch, wäre es ebenso beängstigend. Möglicherweise noch mehr, denn was King hier beschreibt, ist eine Hölle, durch die viele Menschen täglich gehen müssen ... die phantastischen Szenen der Geschichte mildern da eher etwas ab.
© "Rosies Vergeltung: Horror der eindringlichen Art": Rezension und Foto von Winfried Brumma (Pressenet), 2012.
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