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Sie ist eine Range, ihre Mutter hat das immer beklagt. "Lotte klettert auf die Bäume wie ein Junge", das erzählt sie jedem, der es hören will. Denen, die das nicht hören wollen, erzählt sie es allerdings auch. Sie hätte sich eine andere Tochter gewünscht ... eher so einen Typ für Rüschen und Schleifen. "Es gibt so hübsche und günstige Sachen für kleine Mädchen", sagt sie und verdreht verzückt die Augen. Aber das Kind lacht nur darüber, es spielt Fußball mit ihrem Bruder und verkloppt den Nachbarsbengel, der ihrem Bruder beim Spielen ein Bein gestellt hat.
Mit Mädchen kann sie nicht so viel anfangen, weil die nicht so mit tun beim Klettern und so. Ihr Papa lacht nur und findet den frechen Kurzhaarschnitt gut – auch wenn Mama seufzt. Irgendwann wird aber alles ein wenig anders, denn das T-Shirt liegt vorne herum nicht mehr so richtig an, und überhaupt sind die Beine und Arme viel zu lang. Sie fühlt sich nicht so toll und weiß gar nicht so richtig, was sie anfangen soll – der Bruder ist nur noch selten zu Hause und Fußball spielt er nur noch im Verein, und er spricht ganz anders als früher von Mädchen. Lotte verdreht die Augen, vor allem, wenn er es mal wieder übertreibt mit dem Rasierwasser von Vati.
Jetzt ist sie auf einer anderen Schule, bereitet sich auf einen höheren Abschluss vor. Die neue Klasse ist eine reine Mädchenklasse – und die sehen irgendwie alle aus wie von einem anderen Stern. Lotte kommt sich sehr fremd vor – erstens, weil sie nicht ständig aufkreischt und mit den Händen wedelt, und auch weil sie keinen Rock besitzt. Solche Hosen auch nicht – die würden bei ihr nicht lange halten. Aber auf einmal hat sie jede Menge Freundinnen. Die mögen sie, weil sie nicht mitmacht bei den blöden Spielen. Die heißen "Wer ist die Schönste im Viertel?" oder auch "Wer hat die tollsten Klamotten und gibt die besten Schminktipps?". Bei Anke auf der Geburtstagsparty steht sie einfach nur rum – sie hat keine Ahnung, wovon sie reden soll, aber das braucht sie auch nicht, weil im Zehnminutentakt eines der Mädchen ankommt und kichernd und mit den Händen wedelnd davon erzählt, dass ein Junge sie "angesehen" hat. Lotte findet das todlangweilig.
Dann sieht sie auf einmal Lars. Der ist groß und blond, lacht wunderschön und irgendwie sind ihre Arme und Beine noch länger als gewöhnlich. Sie traut sich kaum, Atem zu holen. Lars hat Mädchen um sich herumstehen. Sie schmachten ihn an, kichern und haben glitzernde Augen. Die hat Lotte auch, aber das kriegt niemand mit. Ja, und dann erfährt sie, dass das nun der Bruder von Anke ist. Die stellt ihn der Lotte auch vor, und als er dann "Hallo Lotte" sagt, da ist nun wirklich alles anders als zuvor.
Leider hat Lotte nicht viel Ahnung von Mädchen, und so kommt es, dass Anke ganz schnell spitzkriegt, was los ist. Nach dem Kicheranfall redet sie ganz vernünftig – sagt, dass sie das gut findet, weil sie die "Ziegen" nicht abkann, die ihren Bruder umschwärmen. Und sie fängt an, Lotte umzumodeln. Um Lars aufzufallen, muss sie toll aussehen, das ist Lotte klar. Und dann lernt sie, wie man mit Schminksachen umgeht, wie man im Rock läuft, und vor allem lernt sie, auf hohen Absätzen zu gehen. Der erste Versuch bringt ihr eine Gummibinde und zwei Tage schulfrei ein. Aber es wird besser, wenn es auch nach wie vor höllisch wehtut, wenn sie zu lange in diesen Dingern steht. Mama ist überglücklich, weil ihre Kleine es "gepackt" hat, sich in ein Mädchen zu verwandeln und gibt bereitwillig Geld aus, um einen Satz neuer, todschicker Klamotten und Schuhe zu besorgen.
Papa sagt nichts dazu, er grinst und denkt sich seinen Teil.
Lottes Lieblingsmärchen ist die "Kleine Meerjungfrau", dort kriegt eine kleine Nixe Beine, damit sie dem Prinzen, in den sie sich verliebt hat, folgen kann. Aber der Zauber ist teuer: die Beine tun bei jedem Schritt so weh, als ob sie über Messerklingen gehen würde. Außerdem ist sie stumm. Das war der Preis für die Verwandlung.
Lotte denkt, dass sie etwas von der Seejungfrau hat, denn sie lernt auf diesen Absätzen zu gehen, um ihrem Prinzen hinterherstakeln zu können. Stumm ist sie auch, denn wenn Lars in der Nähe ist, kriegt sie kein Wort heraus. Irgendwie gefällt ihr das nicht wirklich, aber den Gedanken daran verdrängt sie erst mal. Er ist so was von blond, und er lächelt so göttlich ... sie stakelt tapfer weiter. Die Augen brennen auch nicht mehr von dem Zeugs, das sie auflegt – sie kriegt es sogar schon allein hin. Anke hat sich mächtig ins Zeug gelegt, um ihr das beizubringen.
Lars sagt ab und zu etwas zu Lotte und lächelt sie an. Dann ist sie völlig hinüber und wird rot, was der blonde Märchenprinz mit einem Augenzwinkern kommentiert. Sonst beachtet er sie nicht. Erstens einmal ist die "Kleine" die Freundin seiner Schwester, zweitens ist sie absolut nicht sein Typ. Schließlich ist er schon siebzehn und somit erwachsen. Fünfzehnjährige Kids sind nicht sein Fall. Und das sagt er auch – leider sagt er das nicht zu Lotte, sondern zu den ganzen Mädchen, die um ihn rumstehen, als mal wieder ein Treffen angesagt ist: "Deine kleine Freundin ist ja richtig rührend, Anke – aber hör auf damit, mich mit ihr verkuppeln zu wollen. Ich steh nicht auf kleine Mädchen." Alle lachen, Anke sogar auch, nur Lotte nicht, die gerade aus dem Bad kommt und ihre Wimpern noch einmal getuscht hat. Zur Sicherheit.
Alle prusten, als sie sehen, dass Lotte das wohl mitgekriegt hat. Anke versucht, betroffen auszusehen, aber das sieht nicht gerade überzeugend aus. Und nachdem Lotte kurz stocksteif im Flur gestanden hat, dreht sie sich auf dem Absatz herum und will loslaufen – aber da sind die Plateausohlen vor und sie knickt ein. Gelächter hinter ihr – da streift sie die unmöglichen Treter von den Füßen und läuft aus dem Haus und die Straße entlang. Als sie zu Hause ankommt, sieht sie aus wie eine Halloween-Maske – obwohl doch "wasserfest" auf der Packung der Wimperntusche gestanden hat. Sie hat die Nase gestrichen voll von blonden Prinzen, und vor allem hat sie ihre Beine wieder.
Einen Monat später hat sich Lotte in einem Fitness-Center angemeldet – Mama fand das auch gut, weil es so schicke Sachen gibt, die man da trägt. Zweimal die Woche ist Lotte da, und wenn sie auf dem Laufband trainiert, unterhält sie sich gern mit Mischa. Der ist sechzehn und dunkelhaarig und sieht zu, dass er das Gerät neben ihr hat. Mischa findet herausgeputzte Mädchen uncool – und Lotte und er werden demnächst zusammen schwimmen gehen.
© "Von kleinen Meerjungfrauen": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Das Bild zeigt die Bronzeplastik Minsener Seewiefken der Bildhauerin und Malerin Karin Mennen; © Foto: Axel Hindemith.
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