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Guten Tag, Herr Nachbar! Na, Sie haben den Rasenmäher aus dem Schuppen geholt, ja? Sicher, sicher – das Wetter war ja nicht danach in den letzten Tagen, da ging nicht viel. Mein Mäher macht Zicken, will nicht so recht nach der langen Winterpause. Das ist nett von Ihnen, wirklich – aber eigentlich habe ich es gar nicht so eilig damit. Ich habe so lange auf dieses Grün gewartet, auf diese geradezu explodierende Üppigkeit, da will ich das noch ein wenig genießen.
Mir ist schon klar, dass die Nachbarschaft – Anwesende natürlich ausgeschlossen – fragt, ob ich hinter dem Haus einen Urwald kultivieren will. Und der Löwenzahn, der bei mir wie riesige gelbe Schneeflocken überall im Gras verteilt ist, verbreitet munter seine Nachkommenschaft auf allen englischen Rasen oder deren Nachahmer.
Ich weiß, aber Hand aufs Herz, Herr Nachbar – dieses saftige, smaragdene Grün und das kräftige Gelb sind zusammen doch ein herrlicher Anblick. Das dazwischengetüpfelte Weiß der Gänseblümchen setzt den perfekten Akzent. Sie sind sehr groß in diesem Jahr, diese Minimargeriten, ist Ihnen das schon aufgefallen?
Es ist, als wollten sie ein wenig angeben, nach der langen Kälte, wollten zeigen, dass sie jetzt an der Reihe sind und das Sagen haben. Würde mir sehr schwerfallen, das alles einfach so abzumähen. Am Morgen, wissen Sie, da habe ich mir angewöhnt, zuerst einmal nach draußen zu sehen, in den Garten. Und seit ich mir die Zeit nehme, so mit der Kaffeetasse in der Hand ein wenig zu schauen – da habe ich entdeckt, dass es viele Gäste auf der unordentlichen kleinen Wiese gibt. Vögel mögen Unordnung wahrscheinlich, jedenfalls habe ich schon lange nicht mehr so viele gesehen.
Wenn das Gras so kurzgeschoren ist und die Blüten nicht mehr da sind, fallen die Tautropfen nicht so sehr auf, wissen Sie. Aber hier – da glaubt man, dass Tausende von Diamanttropfen über dem Garten verteilt sind. Wenn das erste Sonnenlicht einfällt, spannt jeder Tropfen einen eigenen kleinen Regenbogen. Vielleicht sehen Sie morgen früh ja herüber, Herr Nachbar, Sie werden erstaunt sein.
Ach ja, die Hecke – sie ist doch sehr gewuchert, da haben Sie sicher recht. Exakt geschnitten sieht anders aus, aber sehen Sie, dafür sind doch die Mauern hier ringsum gerade. Es wäre spannend zu sehen, wie sie sich weiter verhält, diese Hecke. Irgendwie wirkt es, als würde sie so etwas wie Fühler ausstrecken, um das Terrain zu erkunden. Vielleicht will sie sich ja ein wenig breiter machen, präsenter sein. Die Hecke weiß wahrscheinlich nicht, dass sie eigentlich eine Begrenzung sein soll und benimmt sich deswegen so ungebührlich. Wo ein Garten anfängt und der andere endet, ist ihr wohl völlig gleichgültig.
Sie lächeln, Herr Nachbar, aber wer kann genau sagen, ob so ein Garten nicht auch eine Gemeinschaft ist – so wie eine Nachbarschaft. Aber da stehe ich und plaudere, halte Sie von der Arbeit ab. Was tun Sie denn da, warum rollen Sie das Kabel zusammen? Ach, Sie haben es sich anders überlegt mit dem Rasen mähen? Muss ja nicht diese Woche sein, meinen Sie? Ja, da haben Sie sicher recht. Einen schönen Tag noch, und vielleicht sehen wir uns ja morgen früh.
© Text und Fotos zu "Guten Tag, Herr Nachbar! Zeit zum Mähen?": Winfried Brumma (Pressenet), 2013.
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