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"Für einen Roman zu kurz – für eine Anekdote zu lang", das sagen manche Verlage über Kurzgeschichten und Kurzromane. Und Bücher mit Short Storys sollen laut einigen Medien als schlecht verkäuflich oder als "mindere Disziplin" gelten. Dabei gibt es unzählige gute Bücher mit Kurzgeschichten – und alle haben Leser. Man denke an die wundervollen Bände mit Science Fiction- oder Fantasy-Geschichten.
Im Wesentlichen kann man zwischen Bänden mit Storys von verschiedenen Autoren, und solchen, deren Geschichten aus einer Feder stammen, unterscheiden. Die ersteren sind in der Regel nach Genre zusammengefasst, die letzteren passen durch den gemeinsamen Autor zueinander. Das ist eigentlich eine simple Sache, aber eine mit Tiefgang.
Marion Zimmer Bradley hat als Herausgeberin vieler "Fantasy-Lesebücher" gezeichnet, und diese "Magischen Geschichten" haben Kultstatus. "Schwertschwester" – "Mondschwester" – "Wolfsschwester" ... das sind nur einige der jeweiligen Titel. Es macht großen Spaß, in einem Buch die Visionen verschiedener Autoren vor sich zu haben, es ist eine Art Überraschungsreise. Mundgerechte Gruselhäppchen sind ebenfalls oft in Short Story-Bänden zusammengefasst, was sie durchaus nicht unattraktiver macht.
Wo ein Roman in gewisser Weise über Zeit verfügt, über ein Tableau, das die Geschichte so langsam entwickeln kann, wie der Autor das für richtig hält, muss eine Kurzgeschichte oder ein Kurzroman mit kräftigen, kurzen und prägnanten Strichen arbeiten, um ein Bild zu zeichnen. Das macht es nicht einfacher, sondern eher schwieriger – auf wenigen Seiten muss eine Geschichte entstehen, die unter Umständen auch mehrere Jahre abdecken kann und trotz der Kürze alles erzählt, was notwendig ist. Dabei kann es sich tatsächlich um eine Beschreibung eines ganzen Lebens handeln – ebenso wie um eine Stunde im Leben eines Menschen.
Eine solche Short Story muss – fast wie eine Karikatur das tut – sich auf das Wesentliche beschränken. Wer eine Tuschezeichnung betrachtet, weiß sofort, was hier gezeigt werden soll – das Auge versteht es, ausdrucksstarke Linien zu einem Kunstwerk zusammenzufügen. Um einen Menschen zu portraitieren, braucht es nicht viele solcher Linien ... aber jeder Leser wird das Gesicht oder die Haltung erkennen können.
Dabei ist Könnerschaft die Voraussetzung – in treffenden, kurzen Strichen etwas Lebendiges wiederzugeben, ist nicht einfacher, als ein ganzes Gemälde zu schaffen. Die Botschaft muss ankommen, das ist das Wichtige dabei. Eine Kurzgeschichte kann keine lange Einführung haben – kaum ein ausklingendes Ende. Sie hat, zumindest in den meisten Genres, die Aufgabe einer Zeitmaschine mit eingebautem Elektronenmikroskop. Ein Fokus entsteht – eine Momentaufnahme manchmal – immer in mancher Hinsicht gerafft.
Aber ein guter Schreiber kann in einem Kurzroman Zeit vorschwindeln, einen ganzen Krieg erzählen oder eine Liebesgeschichte über Jahre ... alles auf wenigen Seiten. Das sind eben die Symbole – die breiten Tuschestriche ... wobei das Wesentliche vom Leser nicht als gebündelt empfunden wird. Ist eine Geschichte wirklich gut geschrieben, hat man das gleiche Gefühl wie nach der Lektüre eines ganzen Buches. Man hat soeben eine Welt verlassen, in der man zu Gast war ... Zeit spielt dabei keine Rolle.
Auch die Größe eines Kunstwerkes spielt nicht die entscheidende Rolle – man denke an die "Mona Lisa" – kein besonders großes Bild, aber jeder hat sie schon einmal gesehen: auf einem T-Shirt, als Kunstdruck oder in irgendeiner Zeitschrift. Kurzgeschichten haben so ganz nebenbei auch einen gewissen praktischen Wert – wer vor dem Schlafengehen noch etwas lesen möchte, kann sich ein kompaktes, kleines Vergnügen leisten, ohne dann aufhören zu müssen, wenn es spannend wird, weil "die Nacht sonst zu kurz wird". Ein Kurzroman ist etwas Gehaltvolles für "Zwischendurch" – oder einfach weil man es portionierter lieber mag? Es gibt viele Gründe für die große Fangemeinde der Kurzgeschichten.
Wer es noch nicht bemerkt hat: hier soll eine Lanze für die kleinen, aber feinen literarischen Häppchen gebrochen werden. Gute Bücher verlassen einen nicht mehr, hat man sie gelesen. Sie bleiben in der Erinnerung, noch nach vielen Jahren. Und so manche Geschichte, die man nicht vergessen kann und an die man sich gerne immer wieder erinnert, ist eben eine Short Story. Damit haben wir schließlich auch alle das Lesen gelernt – unsere Lesebücher in der Schule waren voll davon. Und die Lieblings-Comics machten genau an dem Punkt weiter – es handelt sich dabei immer um kurze Geschichten.
Trotz ihres eher geringen Umfangs – oder vielleicht gerade deshalb – regen die "Miniromane" die Phantasie an – man kann sie weiterdenken, einpassen in das Mosaik des Lebens – brillante kleine Patches für die Flickendecke des eigenen phantastischen Universums.
© "Kurz ist nicht gleich wenig: Ein Plädoyer für Kurzgeschichten und Kurzromane". Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Bildnachweis: Hexe auf Hexenbesen, CC0 (Public Domain Lizenz).
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