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Staunend sah das kleine Mädchen zu, wie der Alte das Farbpulver sorgfältig in die Höhlung schüttete. Er hatte geraume Zeit damit verbracht, einige Dinge, die das Mädchen kannte, zu Pulver zu zerreiben. Das waren Sachen, die draußen wuchsen, und auch ganz einfache Steine, auf die sie sonst nicht geachtet hätte. Er konnte damit ganz wundervolle Sachen anstellen: er warf etwas an die Wand und machte so, dass das Kind es lange betrachten konnte. Alle die wunderbaren und vielleicht auch etwas fremden Wesen waren still und ließen zu, dass man laut sprach, dass man sie ansah, so lange man wollte. Sie durfte zusehen, wie er es machte und war froh darüber.
Die großen gehörnten Tiere zogen über die Wand, genau so, wie sie es draußen taten, wenn die Sonne aufging. Sie hatten Junge dabei, und das war herrlich, denn das bekamen eigentlich nur die Jäger zu sehen. Ihre eigene Mutter hatte ihr davon erzählt, wie die großen Hörner wandern mit ihren Kleinen. Als Mutter selber noch auf die Jagd ging, hatte sie das gesehen. Aber das war – hier stolperten die Gedanken des Kindes ein wenig – vielleicht sehr lange her. Vielleicht genau so lange, wie es dauerte, bis es so warm wurde draußen, dass man mit den Füßen im seichten Wasser des Flussufers plantschen konnte, wenn das böse Eis den Eingang der großen Lagerstätte klein und schmal machte.
Der Alte malte mit den Fingern runde Dinge, so wie die Bachkiesel, an die Wand. Das waren Schneeflocken, sagte er. Aber die waren anders, nicht kalt und man konnte sich nicht vor ihnen fürchten. Er hatte auch gesagt, dass das Eis nicht böse ist und dass es so sein musste. Nur was schläft, wenn alles Frost ist, kann wieder erwachen.
"Aber wir schlafen doch auch nicht, wir sind doch wach und wir tun alles, was wir sonst tun", sagte das Mädchen. Der Alte lächelte vor sich hin, während er sachte mit einem zerfransten Holzstäbchen die Rückenhaare des großen Horntieres an die Wand zauberte. "Tun wir wirklich alles so wie sonst?", fragte er.
Das Kind dachte ein wenig nach. "Nein, nicht alles. Wir sammeln nichts und haben nicht so viel zu essen. Nur das alte Zeug, das wir in den Gruben haben und in den großen Körben. Wir dürfen nicht raus, nur die Jäger und die Frauen, die Schnee holen, um Wasser daraus zu machen. Der Bach unten am Hang schläft auch. Ich will aber, dass es aufhört."
Der alte Mann lachte und nahm rotes Pulver, feuchtete es an und plötzlich gab es eine Sonne an der Wand. Alle Tiere, die der Alte gemalt hatte, liefen darauf zu. Das Rot war so schön, dass das Mädchen in die Hände klatschte. "Ich will das auch sehen, die großen Hörner und ihre Kinder, wenn sie die Sonne suchen gehen. So wie meine Mutter. Aber ich will sie dann hierher bringen, so wie Du es tust."
"Ah, ja ja", nickte der Alte, "sie war eine gute Jägerin, die dich geboren hat. Sie hat ihren Anteil an Fleisch gebracht, das hat sie. Aber dann kamen die Kleinen, und die Hirschkuh blieb im Rudel." Er lachte wieder leise und dachte an das Kind seiner Gefährtin, die Mutter dieses Mädchens hier. Er war sehr stolz auf sie gewesen, war es immer noch. Sie war klug, und sie war stark. Ihre Kinder waren kräftig. Und diese Kleine da erinnerte ihn an sie, wie sie war, als sie etwa ebenso viele Monde gesehen hatte. Nur dass dieses Kind hier sehen konnte, was er wirklich tat. Sie war geduldig, konnte warten, bis die Bilder erschienen.
Kinder gehörten zu dem Schoß, der ihr Tor zum Leben gewesen war. Der Mann wusste um seinen Teil bei der Entstehung von neuen Wesen, aber er verstand diese als Teil der Frau. Aber in dieser Kleinen hier erkannte er etwas von der Neugierde, die ihn zu dem gebracht hatte, was er nun seit langer Zeit tat. Es war Neugierde nötig, die über das unabdingliche Wissen ging, das gebracht wurde, um Nahrung zu beschaffen. Manche Jäger sahen mehr, andere weniger.
Er hatte viel gesehen – und er zeigte es, damit die Welt so voll blieb, wie sie sein sollte. Seine Kunst war die Hoffnung auf das Weitere – auf das, was kam, wenn das letzte Feuer niedergebrannt war. Manches geschah immer wieder, es gehörte zu der Welt, die er kannte. Die Wege der Tiere, die Zyklen der Pflanzen – es war mehr als das, was man essen konnte. Er fühlte das, es war eine Gewissheit. Und nur für die glänzenden Augen der Kleinen ließ er mit geübten Fingern ein junges Pferd sich spielend auf dem Rücken wälzen.
Das satte Ocker, das er dazu benutzte, leuchtete sogar in dem fahlen Sonnenstreif, der plötzlich durch eine oben liegende Spalte im Fels kam. Es war, als wäre das Tier plötzlich voller Leben. Das Kind war außer sich vor Freude daran und sprang an dem Alten hoch, um ihn in ihre mageren Arme zu schließen.
Er wusste, dass dieses Pferdchen nicht lange hier sein würde – diese helle Stelle würde zu viel Nässe bekommen durch die Spalte, und die Farben vertrugen das Licht der kraftvollen Sonne schlecht. Aber er könnte ein Neues für das Kind machen, oder ... und das war in ihm wie der Gedanke an den Sommer ... sie würde es selber tun.
+ + +
Nach vielen, vielen Zeitaltern standen Forscher in der Höhle und bestaunten die Bilder auf den Felswänden. "Sehr einfach zuzuordnen, sehr gut erhalten. Nur hier hinten, sehen Sie dieses Bild? Es scheint aus sehr vielen Schichten zu bestehen. Aber das irritierende ist: es hebt sich in erstaunlicher Weise von den anderen Zeichnungen ab. Es tanzt sozusagen aus der Reihe."
© "Das spielende Pferdchen": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Die Abbildung zeigt ein Detail aus der Höhlenmalerei von Lascaux, Lizenz: gemeinfrei.
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