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Die Beamten auf der Wache warfen sich vielsagende Blicke zu, einer grinste unverhohlen. Aber der älteste Beamte sprach ruhig. "Also Sie haben diesen Mann schon eine Zeit lang beobachtet, habe ich das richtig verstanden?" Der alte Mann nickte wiederum. "Jaja, das habe ich doch gesagt, endlich bin ich so nahe an ihn herangekommen, dass ich ihn ansprechen konnte. Das war nicht einfach, wissen Sie."
Die Ernsthaftigkeit, mit der der Festgenommene sprach, verlieh ihm eine gewisse fadenscheinige Würde, die dafür sorgte, dass der dienstälteste Polizist weiterhin sanft sprach. Der alte Mann da vor ihm auf dem Stuhl war sehr freundlich, aber von einer sonderbaren Bestimmtheit. Gefährlich sah er nicht aus, aber die Streife hatte ihn dabei beobachtet, wie er einen anderen Passanten attackierte und ihn daher auf die Wache gebracht.
Der Alte trug saubere, aber nicht gerade neue Kleidung. Einer von den vielen Rentnern, die in dieser Stadt unterwegs waren. Unauffällig, ruhig ... einfach zu übersehen. Aber dann bedrängt so ein Opa plötzlich einen jungen Kerl, so einen mit schwarzer Jacke und schwarzen Hosen, mit Tattoos, die wahrscheinlich nur er deuten kann – kurze Haare und kantiges Gesicht. Die beiden Streifenpolizisten konnten dazu nur wenig sagen – das "Opfer" des Alten war nämlich verschwunden.
"Einfach so?", hatte der Wachhabende gesagt. Das war den beiden Jungen peinlich – aber da der Alte sich nicht beruhigen wollte, hatten sie ihn hierher gebracht, ohne sich mit der Suche nach dem Mann aufzuhalten. Sie konnten nicht einmal sagen, wann genau er verschwunden war. "Also dann erzählen Sie doch noch einmal, warum Sie den Mann angegriffen haben", wandte er sich dann an den alten Mann.
"Angegriffen?" Fast tonlos kam das über die Lippen des Alten. Es sah aus, als träte diese Tatsache erst jetzt in das Bewusstsein dieses kleinen, zierlichen Menschen, der so aussah, als könnte ihn ein Luftzug umwerfen. "Ich wollte ihn nicht angreifen, ich wollte ihn aufhalten." Der Vernehmungsbeamte ignorierte das amüsierte Glucksen, das von einem der Streifenpolizisten kam, und seufzte hörbar auf. Aber da begann der Kerl zu reden, er sprach immer schneller, verhaspelte sich und begann den Satz von neuem ... ein Strom von Worten brach geradezu aus ihm heraus.
"Er ist mir aufgefallen, wissen Sie, schon vor Monaten. Er trug andere Kleider, so buntes Zeug und viel zu große Hosen. Stand da und zeigte in den Himmel hinauf. Da fiel eine Taube runter, ihm genau vor die Füße – eine weiße." Hier machte der Greis eine kleine Pause, so als ob er auf eine Reaktion warten würde, doch als sich der Gesichtsausdruck des Beamten nicht änderte, sprach er hastig weiter. "Erst glaubte ich an einen Zufall, ja, einen Zufall. Aber dann ging er fort, und ich wollte mir den Vogel genauer ansehen. Der war aber verschwunden, verstehen Sie. Ich hab den Boden abgesucht, aber da war nichts mehr. Und ich hab's vergessen, bis ich ihn wieder sah, den Kerl. Einen Anzug hatte er an, und eine Tasche trug er, so eine flache, schwarze. Und er guckte in den Himmel hinauf, warf die Hand hoch, so als ob er einen Revolver darin trüge, und zeigte wieder mit dem Finger irgendwo auf die Wolken." Unterdrücktes Gelächter war zu hören, als dieser letzte Satz kam, doch der Beamte winkte ungeduldig mit der Hand, so dass das Geräusch verstummte.
"Ist dann wieder eine Taube vom Himmel gefallen?", fragte er. "Ja, es war wieder eine weiße Taube. Und wieder war sie dann auf einmal weg. Von dem Tag an habe ich aufgepasst, ob ich ihn wieder sehe, den Kerl. Und immer wieder bin ich ihm begegnet. Mal trägt er lange Haare, mal kurzgeschorene Haare. Lange Mäntel und Stiefel hat er, oder Jogginghosen und Latschen. Er fällt niemandem auf, er sieht aus wie Sie und ich. Und immer wenn er wieder eine Taube ... vom Himmel holt, passieren schreckliche Dinge."
Geduldig fragte der Beamte nach. "Was für Dinge sind das denn, die dann passieren?" Und der alte Mann schaute nervös um sich, er fuhr sich durch die grauen, spärlichen Haare, die er kurzgeschnitten trug, räusperte sich und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Man hatte ihm Kaffee angeboten oder Tee, aber er hatte nur ein Glas Wasser verlangt. Davon nippte er ein wenig und sprach dann leiser, hastiger, fast beschwörend.
"Menschen werden zusammengeschlagen, ohne Grund. Prügelattacken nennt man das in der Zeitung. Kinder verschwinden, Leute werden ermordet. Häuser brennen ab. Immer, wenn ich ihn gesehen habe, stand am nächsten Tag so etwas in der Zeitung oder kam im Radio – wurde im Fernsehen gebracht." Der Polizist fuhr sich über die Augen, so als wäre er müde. Aber er gab durch nichts zu erkennen, was er dachte. "Weil die Tauben vom Himmel kamen, meinen Sie das?", fragte er in nüchternem Ton.
"Ja, verstehen Sie denn nicht?" Der alte Mann beugte sich vor und raunte: "Für jede weiße Taube, die fort ist, kommt etwas anderes. Etwas Böses, Gewalttätiges. Jedes Mal ist es so gewesen. Viele, viele Male." Der Beamte dachte an die zunehmenden Gewalttaten, mit denen sich die Polizei befassen musste und schüttelte leicht den Kopf. Die nervöse Stimme des Alten drang weiter an sein Ohr.
"Ich musste ihn aufhalten, musste dafür sorgen, dass er aufhört. Ich habe ihn verfolgt, den Kerl, der immer anders aussieht. Er ist unheimlich, man bemerkt ihn nicht. Niemand hat gesehen, was er macht, weil niemand hinsieht. Und heute bin ich nah genug gekommen."
"Und wie", fragte der Polizeibeamte, "wie wollten Sie ihn aufhalten?" Der zitternde Mann vor ihm schaute mit trüben Augen auf den Boden. "Ich weiß es nicht. Aber jemand musste doch etwas tun, verstehen Sie."
Nachdem niemand wirklich zu Schaden gekommen war, beziehungsweise der Angegriffene sich entzogen hatte, machte es keinen Sinn, den Mann weiter hierzubehalten. Wahrscheinlich war er verwirrt, aber nicht besonders gefährlich. Zudem wohnte er in einer Art Seniorenwohnheim, wie aus der Adresse hervorging. Der Beamte wies die Streife an, den Alten heimzubringen, nachdem alles aufgenommen worden war. Man würde mit der Heimleitung sprechen, alles Weitere wäre dann Sache der betreuenden Personen.
Es war spät geworden, schon fast zwanzig Uhr. Nachdem die Polizisten und der alte Mann, der nach seiner Aussage beharrlich schwieg, die Wache verlassen hatten, trat der Diensthabende an das Fenster, um es zu öffnen. Ihm war ganz plötzlich nach einem Atemzug frischer Luft. Die laue Abendbrise umschmeichelte seinen angespannten Nacken, als er mit gebeugtem Kopf am Fenster stand, die Hände auf das Fensterbrett gestützt. Er hätte das leise Ploppen fast überhört, mit dem der Vogel auf das äußere Fenstersims aufschlug. Ohne den Kopf zu heben, starrte er auf eine tote Taube, eine völlig weiße, tote Taube. Als wäre er paralysiert, verharrte er in seiner Haltung, starrte auf den Kadaver, als wäre die Welt um ihn her verschwunden.
Was aber wirklich verschwand, waren die Konturen des Vogelkörpers, sie verschwammen wie mit Weichzeichner fotografiert ... flimmerten, verwischten sich mehr ... waren fort. Das nun auf einmal leere Sims war erschreckender als jeder Albtraum jemals sein könnte – vor allem deshalb, weil ein hämisches Kichern an das Ohr des Mannes drang. Und Laute wie von Stiefeln, die unten auf dem Pflaster hallten.
© Textbeitrag und Foto zu "Bald fliegen sie nicht mehr": Winfried Brumma (Pressenet), 2013.
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