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Der Junge stand am Seeufer und warf flache Kiesel hinein – einen nach dem anderen – und beobachtete, wie sie versanken. Missmutig, weil sie nicht so recht springen wollten, warf er größere Steine mit aller Wucht hinaus auf die Wasseroberfläche.
"Na, pass jetzt aber auf, dass du den Würm nicht aufweckst", sagte da eine freundliche Stimme hinter ihm. Der Junge fuhr herum und sah in die freundlichen Augen eines alten Mannes, der auf seinen Stock gestützt wohl schon einige Zeit hinter ihm gestanden hatte. Mit schiefgelegtem Kopf fragte der kleine Steineschleuderer: "Der Würm? Wer ist das?" Da lächelte der Herr und fing an zu erzählen, wobei er langsam weiterging, jetzt mit einem neugierigen Begleiter an seiner Seite.
Der Starnberger See hier habe nicht immer so geheißen. Vor langer Zeit hatte man ihn Würmsee genannt. Das hatte nichts mit Würmern zu tun gehabt, sondern mit dem Namen eines Zuflusses, der Wirm. Aber trotz allem erzählte man sich, so sprach der alte Herr weiter, dass seit Urzeiten auf dem tiefen Grunde des Sees ein Drache schlafe. Zusammengerollt liege er da, den riesigen Kopf unter seinem mächtigen Drachenleib gesteckt wie ein schlafendes Hündchen.
Mit einem Blick versicherte sich nun der Erzähler, dass er die vollste Aufmerksamkeit des Jungen hatte, um dann fortzufahren mit seiner Erzählung. Der aufmerksame Zuhörer hörte nun, dass man früher geglaubt hatte, dass eines Tages der Drache erwachen und aus dem See auftauchen würde. Dann würden die Wassermassen das umliegende Land überschwemmen und großes Elend käme über die Menschen.
In alten Zeiten war ein Wasserdrache so etwas wie ein Symbol für Überschwemmungen gewesen – etwas, das den Menschen großen Schaden zufügen konnte. "Also wirf nicht allzu viel Steine in das Wasser, man weiß nicht, ob vielleicht einer den Würm auf den Schwanz trifft", meinte der Mann noch lachend und klopfte dem Jungen auf die Schulter. Dann ging er gemächlich weiter.
Mit neuem Interesse starrte der Junge nun auf die Wasserfläche hinaus, dann setzte er sich dicht am Ufer ins Gras und versuchte sich das Untier da unten vorzustellen. Wie tief war der See überhaupt und wo genau lag der Drache? Oder bedeckte er am Ende den ganzen Grund? Natürlich war das alles nur eine Geschichte, aber man konnte auch nie wissen. Und während er so auf das Wasser starrte, kam es ihm vor, als kräuselten sich die Wellen auf einmal anders als vorher und als hätte der See eine andere Farbe angenommen. Er schien auf einmal von durchscheinendem Blau zu sein, fast wie Glas.
Fast war es dem Jungen, als könne er bis auf den Grund sehen, wo viele, viele Steine lagen. Da waren auch die dabei, die er hineingeworfen hatte, das war sicher. Und dann nahm er einen großen Kiesel auf und warf ihn in das helle Blau hinein, wo er hinuntersank, immer tiefer und tiefer. Er konnte ihn immer noch sehen, wie er durch das klare Wasser auf einen dunklen Fleck auf den Grund zusank und darin verschwand.
Als der Stein verschwunden war, wurde es plötzlich still. So still, dass man das eigene Herzklopfen hören konnte. Und dann kam eine sonderbare Kälte auf – der Junge fröstelte und trat einen Schritt zurück. Aber das Wasser folgte ihm. Es sah aus, als ob sich der Wasserspiegel heben würde, und das sehr schnell. Denn als er sich umdrehte, sah er, dass er viele Schritte entfernt vom Ufer stand. Entsetzt wandte der Junge sich wieder dem See zu und erstarrte, denn der war in heftige Bewegung geraten.
Wellen rollten auf ihn zu und wieder zurück, ein tiefes Grollen war zu hören, das aus dem See zu kommen schien. "Nichts wie weg hier", dachte der entsetzte Steinewerfer – aber da wurden die Fluten des Sees dunkel wie die Nacht, und in der Mitte tat sich ein Strudel auf. Mit aufgestellten Nackenhaaren starrte der fassungslose Junge darauf – und ohne sich weiter rühren zu können, sah er, wie sich etwas Weißes aus dem Strudel erhob. Zwei riesige Hörner waren das, bestimmt so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Dann folgte etwas Blaues – etwas, das aussah wie eine Stirnplatte mit vielen Auswüchsen darauf.
Und dann plötzlich war der ganze Kopf sichtbar, mächtig wie ein Haus. Ein gewaltiges Maul öffnete sich zu einem ohrenbetäubenden Röhren, und ein langer gebogener Hals, völlig mit stahlblauen Schuppen bedeckt, schob sich in die Luft. "Das darf es nicht geben, das ist unmöglich", dachte der vor Angst starre Junge. Ich muss die Menschen warnen, bevor er ganz heraus ist aus dem Wasser." Aber er konnte sich nicht bewegen, und überdies war ihm das Wasser bis zur Brust gestiegen mittlerweile.
Der Drachenkörper kam aus den Fluten empor und verdunkelte die Sonne, der Kopf pendelte suchend über dem Wasser hin und her. Und plötzlich öffnete das Ungeheuer seine Augen, zwei riesengroße gelbe Augen, die glühten. Der Drache suchte den See ab, und zum Entsetzen des Jungen blieb der Blick genau an der Stelle hängen, wo er sich befand. Das riesige Geschöpf verharrte in der Bewegung, dann schob es den Kopf auf dem langen Hals näher.
Hilflos sah der Junge das grauenvolle Reptilienhaupt auf sich zukommen, das größer und größer wurde und dann einige Meter vor ihm innehielt. Dann öffnete sich das Maul und ein Stein wurde in die Fluten gespien – einer, der genauso aussah, wie der, den der Junge zuletzt in den See geworfen hatte. Eigentlich erwartete der Junge nur noch seinen Tod, denn der Drache wusste scheinbar genau, wer ihn geweckt hatte.
Einen Augenblick fixierten die unheimlichen gelben Augen das zitternde Opfer, dann hob der Würm seine gigantische Tatze und schlug damit auf die Wasseroberfläche. Eiskaltes Seewasser klatschte in das Gesicht des Jungen, und jemand lachte laut. Verwirrt öffnete er die Augen und sah seinen Vater vor sich stehen, in der Hand einen großen geöffneten Schirm. "Was ist das denn für eine Geschichte, hier am Seeufer einzuschlafen, und auch noch, wo es anfängt zu regnen. Na, dann aber schnell heim und in trockene Sachen. Das Abendbrot steht gleich auf dem Tisch."
Mit zitternden Knien und unendlich erleichtert folgte der Junge seinem Vater, aber er wandte sich während des Gehens noch einmal zum See, der unschuldig und ruhig da lag. Jedenfalls steckte mehr dahinter, als man sah. Das stand fest.
© "Die Geschichte vom Untier im Starnberger See": Winfried Brumma (Pressenet), 2009. Bildnachweis: Starnberger See, CC0 (Public Domain Lizenz).
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