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In Jutta Schöps-Körbers Roman "Durch fünf Türen" wird die Ich-Erzählerin Aenne durch den Tod von Anthony, einem Mann von etwa Mitte dreißig, existentiell erschüttert. Aenne war sehr vertraut mit dem jungen Mann. Durch dessen Tod vergisst sie jedoch einen Teil ihres Lebens.
Durch einen seltsamen Alten, den sie bei Westminster Abbey in London trifft, wird ihr klar, dass sie versuchen muss, ihre Gedächtnislücken zu schließen. Ein Kästchen, das der Alte Aenne schenkt, soll ihr dabei helfen. Es enthält ein gläsernes Pentagramm, eine alte Weltkarte und ein Fläschchen mit unbekanntem Inhalt.
Aenne stößt eine Tür ihres Lebens nach der anderen auf und entführt den Leser nach
– Namibia (diese Leseprobe)
– in den Irak
– nach Deutschland
Aenne, Witwe, fliegt nach Anthonys Seebeisetzung zurück nach Namibia, wo sie seit etwa 30 Jahren zusammen mit ihrer Schwiegermutter Heidi eine Farm betreibt. Der Tod des jungen Mannes macht ihr noch schwer zu schaffen.
Es ist sieben Uhr morgens. Mein Flieger ist in Windhoek gelandet. Ich bin müde, abgespannt. Zwölf Stunden habe ich in diesem Flugzeug verbracht und natürlich kaum Schlaf gefunden. In meinem Kopf rotiert er, ganz gleich, ob ich wach bin, die Augen schließe oder vor mich hindöse. Ständig ist er um mich, in mir, neben mir, morgens, mittags, abends und auch nachts.
Anthony.
Doch er ist tot.
Ist er tot?
Und ich, lebe ich noch oder wandelt nur meine körperliche Hülle umher?
Gibt es mich überhaupt?
Gab es mich irgendwann einmal?
Ich fröstle.
Aber als ich durch den Zoll bin, steht Heidi plötzlich vor mir, lacht mich an und quetscht mich an ihren überdimensionalen Busen.
"Ach, Kindchen, Kindchen", sagt sie, obwohl ich doch inzwischen auch schon meine 53 Jahre auf dem Buckel habe. Aber es tut so gut, in den Arm genommen zu werden. Dann aber brechen die Tränen aus mir heraus, ein Stöhnen quält sich aus meiner Brust, ich versuche es, zurückzudrängen, doch Heidi streichelt mich unentwegt. Es dauert nicht lange, dann ist der Anfall vorbei. "Komm'", sagt Heidi, "Wilbur wartet auf uns auf dem Eros-Flugplatz mit seiner Cessna."
Es dauert nicht lange, dann sind wir in der Luft, und mir wird bewusst, dass ich wieder in meinem geliebten Namibia bin. Unter mir liegt das braune Land. Straßen sind darin wie Adern eingegraben. Hin und wieder erkenne ich Häuser mit grünen Dächern oder auch blauen oder roten, gerade so, wie es dem Eigentümer gefällt.
"Haben wir Zeit, einen Abstecher zur Skelettküste zu machen?", frage ich.
"Klar", meint Wilbur und ändert seinen Kurs etwas mehr nach Westen.
Das Land unter uns verändert sich nur wenig. Die große geteerte Straße frisst sich hindurch, kleinere Sandpisten münden in sie ein, hin und wieder ist eine Farm zu sehen, Palmen im matten Grün, giftgrüne Behälter auf Eisenstelzen. Wasserbehälter.
Dann erhebt sich halb rechts wieder ein größeres Bergmassiv. Es ist der berühmte Waterberg. Die seltensten Pflanzen wurzeln hier und Tiere leben dort, die man sonst nirgends findet.
"Wir drehen jetzt ab zur Namibwüste", erklärt Wilbur. Das dunkle warme Braun des Erdbodens weicht einem abweisend kühlen Grauschwarz nackter Felsen. Gleich danach schmückt der sich jedoch mit einem strahlenden Goldgelb des Sandes und schlingt ein Englisch-Rot darüber. Es ist unfassbar schön.
+ + +
Nun geht Wilbur mit seinem Flugzeug tiefer. Dünen aus gold-gelbem Sand wachsen mir entgegen, ihr Kamm gleicht einer Meereswoge. Ein toter Baum streckt seine dunklen Arme gegen den Ocker des Sandes und liefert ein perfektes Motiv zum Fotografieren.
Und plötzlich erkenne ich den Ozean und erinnere mich an das Pentagramm, dessen eine Sternspitze auf den Atlantik deutete. Ein feiner Dunstschleier liegt über dem Wasser, dann aber hebt er sich, gibt nun ein tiefes Blau frei, dazu ein Violett mit einem schmalen Streifen Altrosa, dem das Gelb der Sanddünen entgegenstürmt. Der leichte Nebel über dem Meer wabert hin und her, gibt mal da das Violett frei, dann dort das Blau und das Rosa. Fast ist es, als bewege eine unsichtbare große Hand eine Tüllgardine vor einem Fenster mit eingesetzten bunten Bildern. Ich kann von diesem Spiel der Farben nicht genug bekommen, schaue und schaue. Wilbur fliegt nun wieder Norden zu, der Küste entlang. Die Natur verschwendet sich in den kräftigsten Farben, die ich je gesehen habe. Im Landesinnern herrscht ein Rostrot vor, das sich zum Meer hin in ein Ockergelb wandelt, dann zum Sonnengelb wird, schließlich zum sahnigen Hellgelb. Und dort, am Fuße der Dünen, tost das Violett-Blau des Wassers mit dem zarten Rosa gegen die Küste voller Riffe und täuscht über die gefährlichen Felsen auf dem Grund des Meeres mit einem weißen Spitzenschleier aus Wassertröpfchen hinweg.
Wieder zeigt Wilbur auf etwas.
"Jetzt sind wir über der Skelettküste. Kannst du das Wrack dort liegen sehen?"
Natürlich, ich fliege nicht das erste Mal über diesen Teil Namibias. Dort unten liegt ein Haufen Schrott, in den Schaum des tobenden Meeres geworfen, jetzt hässlich schwarz-braun aus dem hellen Sand aufsteigend.
"Danke für diesen Umweg, Wilbur", sage ich, "dieser Teil unseres Landes ist für mich immer noch etwas Besonderes. Es ist traumhaft. Aber jetzt sollten wir vielleicht doch nach Hause."
+ + +
Kurz danach landen wir bei der Etosha, dem Nationalpark Namibias, wo Heidi ihr Auto geparkt hat. Zwei Stunden werden wir nun noch unterwegs sein, bis wir auf unserer Farm sind. Auch Wilbur hat seinen Landrover bei dem Nationalpark abgestellt. Wir umarmen uns zum Abschied, dann klettere ich in unseren Wagen. Heidi setzt sich auf der rechten Wagenseite ans Steuer. Nach all den Monaten in Europa stößt es mir wieder auf, dass in Namibia links gefahren wird. Auf der geteerten Straße surrt der Wagen entlang. Wortkarg bin ich geworden, nicht nur, weil ich müde bin. Mich beschäftigt etwas anderes, mit dem ich endlich herausrücke.
"Heidi", gebe ich endlich zu, "du wirst es nicht verstehen, aber ich habe alles vergessen."
"Was meinst du?"
"Ich weiß, wer ich bin, wer du bist, dass ich mit deinem Sohn Martin verheiratet war. Ich erinnere mich, dass Martin ums Leben kam und ich kenne unsere Farm, aber in meinem Kopf ist ein vollkommenes Durcheinander. Wenn ich mich erinnern will, kommen mir nur Fetzen in den Sinn. Ich kann sie nicht einordnen, ich erkenne keine Zusammenhänge, Heidi, ich glaube, ich spinne."
"Das tust du ganz bestimmt nicht. Wenn du daran denkst, was dir alles passiert ist, allein in den letzten Wochen, deine Seele wehrt sich dagegen, will dich schützen."
"Aber Heidi, es ist mein Leben", rufe ich angstvoll, "ich kann doch nicht zulassen, dass ich das, was mein Leben ausmacht, verliere, vergesse!"
"Du wirst dich erinnern, es wird wieder kommen. Ich bin ganz sicher. Du hast doch mich, wir können miteinander sprechen, du kannst mich fragen."
Minuten rinnen dahin. Dann wage ich es:
"Wer war Anthony? Wie kam er ausgerechnet auf unsere Farm?"
Heidi lacht.
"Dass du dich daran nicht mehr erinnerst, kann ich kaum glauben, es war ein Glanzstück. Anthony war ein Meister der Verführung, ich meine, er konnte Menschen wunderbar an der Nase herumführen und er konnte Menschen mit seinem Charme becircen." Sie schweigt eine Weile, lächelt dabei, spricht dann weiter:
"Es ist etwa anderthalb Jahre her, dass er zu uns kam. Fritz lebte damals noch, du wirst das wissen."
Ich nicke. Fritz war mein Schwiegervater.
"Keiner wusste, woher Anthony kam. Er kletterte einfach aus einem Auto ankommender Touristen. Wer er war, das wusste auch keiner so recht. Nach seinem Englisch, das wie auf Stelzen dahergestakst kam, war er mit Sicherheit kein Amerikaner, wie er einmal so nebenbei behauptete. Außerdem war seine Hautfarbe von sahnigem Braun, seine Augen leuchteten dunkel und sein Haar war von einem schönen gleichmäßigen Schwarz, so dass er eher aus Arabien stammen musste als aus den USA. Ein paar Narben hatte er im Gesicht, in der Art von Schmissen, wie sie sich Studenten bei einer Mensur holen können und als er später sein T-Shirt auszog, waren auch auf Brust und Rücken Narben zu sehen. – Ach, was rede ich, das weißt du natürlich."
"Sprich' ruhig weiter, Heidi, es tut so gut, wenn jemand Anthony kennt."
+ + +
"Anthony hat Touristen herumkutschiert, kann das sein?", werfe ich ein.
"Ja, wenn er nicht auf der Farm arbeitete."
"Mir fällt ein, dass er mir ganz begeistert von der guten Frau Schatz erzählte, die in Outjo das Museum hütet und deren Traum es ist, endlich eine Bergkanone aus dem Herero-Aufstand für ihre Sammlung alter Kanonen zu bekommen." Mir wird ganz warm bei dieser Erinnerung. Gleichzeitig aber steigen mir schon wieder Tränen auf. Die Erinnerung an Anthony quält mich. Ich senke den Kopf. Heidi bemerkt es, schaut kurz von der Straße weg, legt mir ihre Linke auf die Schulter und meint:
"Du musst dich deiner Tränen nicht schämen. Und gleichzeitig musst du daran denken, wie schön es ist, dass es diese Erinnerungen gibt."
"Wenn ich mich nur..."
"Das wird schon werden. Komm' erst mal nach Hause. Wenn du Moses triffst und Selma und die anderen, dann wird dir schon wieder alles einfallen."
Heidi schweigt. Auch ich habe gerade nichts mehr zu sagen. Betrachte die Gegend. Vor dem hellen Himmel ziehen drei Giraffen einher. Ein abgestorbener Kameldornbaum schiebt sich in mein Blickfeld. Das Holz ist so hart und der Baum wurzelt so tief, dass er auch dann nicht umfällt, wenn er nicht mehr lebt. Von diesem Baum haben Webervögel Besitz ergriffen und ihre riesigen Nester in seinen Ästen gebaut. Ich habe solche Vogelkolonien schon oft gesehen, aber auch dieses Mal berühren sie mich. Ich muss daran denken, dass Menschen und Tiere sich nicht so sehr unterscheiden. Plattenbauten und Wolkenkratzer sind im Grunde nichts anderes, als diese Bauten der Siedelweber.
"Und außerdem", platzt Heidi völlig zusammenhangslos in meine Gedanken, "sind seine Sachen noch bei uns."
Hinweis: Der Roman "Durch fünf Türen" ist bisher noch nicht als Buch erschienen.
© Leseprobe aus "Namibia" sowie Fotomaterial von Jutta Schöps-Körber.
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