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Mit diesem Buch legt Frank Nonnenmacher eine Doppelbiografie vor, die er zum einen über seinen Vater Gustav Nonnenmacher geschrieben hat, der als Pilot in Hitlers Luftwaffe diente sowie nach Kriegsende als freischaffender Künstler arbeitete, zum anderen über dessen Bruder Ernst Nonnenmacher, der als "Asozialer" und "Berufsverbrecher" vier Jahre im Konzentrationslager Flossenbürg verbrachte.
Nach Kriegsende sind Menschen wie Ernst Nonnenmacher nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt worden. Ihre Schicksale wurden ignoriert, sie hatten keinen Anteil am erinnerungskulturellen Gedenken in der Bundesrepublik Deutschland. Auch die historische Forschung hat sich viele Jahre lang nicht mit diesen NS-Opfern beschäftigt. Selbst die Betroffenen haben angesichts anhaltender Diskriminierung jahrzehntelang geschwiegen.
Mit "DU hattest es besser als ICH" liegt nach sieben Jahrzehnten die bislang einzige Publikation vor, die die vollständige Biografie eines von den Nationalsozialisten als "Asozialen" und "Berufsverbrecher" diskriminierten NS-Opfers erzählt.
Die rund 352 Seiten starke Taschenbuch-Ausgabe "DU hattest es besser als ICH: Zwei Brüder im 20. Jahrhundert" wurde im März 2015 in zweiter überarbeiteter Auflage vom Verlag für Akademische Schriften (VAS) herausgegeben und wird über die Mediengruppe Westarp unter der ISBN 978-3888645280 vertrieben.
Hinweis vorab: Der Textauszug beginnt im April 1914, als die ledige Weißbüglerin Margarete Nonnenmacher ihrem zweiten Sohn Gustav das Leben schenkt. Bereits Jahre zuvor mit einem wortbrüchigen, unzuverlässigen Mann gestraft gebar Margarete im April 1908 ihren ersten Sohn Ernst.
Die Geburt war komplikationslos verlaufen und der kleine Gustav – obwohl ein wenig schmächtig – verhielt sich wie jeder Säugling: Er weinte ab und zu, vor allem dann, wenn die Mutter nicht da war. Auf Max konnte Margarete sich nicht mehr verlassen. War er schon Ernst gegenüber indifferent – mal schien er ihn ganz liebevoll zu betrachten, dann wieder verweigerte er völlig jede Fürsorge – so zeigte er sich seinem Sohn gegenüber völlig gleichgültig. Wenn die Rede davon war, dass er, während Margarete auf Arbeit war, auf den Kleinen aufpassen sollte, dann tat er dies entweder mürrisch oder unzuverlässig. Wenn Margarete nach Hause kam, war oft genug das inzwischen kalt gewordene Fläschchen nicht getrunken und meist stank es ganz fürchterlich, weil Max sich weigerte, sich um die Windeln zu kümmern.
Immer wieder wog Margarete innerlich ab: War es besser, einen unzuverlässigen Mann zu haben, dem sie misstraute und den sie inzwischen nicht mehr lieben konnte, aber eben überhaupt einen Mann, oder war es besser, sich allein als ledige Mutter durchs Leben zu schlagen? Je länger Margarete sich diese Frage stellte, desto klarer wurde ihr, dass – schon deshalb, weil sie sich dies immer wieder fragte – die Entscheidung eigentlich bereits gefallen war. Von da an überlegte sie nur noch, wie sie es Max so beibringen konnte, dass er ihre Entscheidung akzeptieren und nicht allzu aggressiv reagieren würde. Doch sie brauchte diese Frage nicht mehr zu beantworten, denn eines Tages geschah etwas Unvorhergesehenes.
Mitte Juni klopfte es abends an der Tür; zwei Männer, die sich als Kriminalbeamte vorstellten, fragten, ob hier ein gewisser Max Brunschmid wohne. Max war gerade unterwegs, um wieder einmal etwas zu "besorgen". Als Margarete erklärte, dass Max vorübergehend bei ihr wohne und der Vater ihres zweiten Buben sei, wollten die Beamten wissen, ob sie denn "keine Schwierigkeiten" mit Max habe. Max sei vorbestraft wegen Diebstahls, Hehlerei und Heiratsschwindel und jetzt sei er verdächtig wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger. Er habe kleine Jungen auf dem Spielplatz belästigt. Ob er ihr denn die Ehe versprochen habe und ob der Herr Brunschmid zu den Kosten des Zusammenlebens beitrage.
Margarete hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber als nun klar ausgesprochen wurde, was sie sich so drastisch nicht einmal in ihren schlimmsten Verdächtigungen hatte vorstellen können und letztlich nicht wahr haben wollte, war sie doch entsetzt und erst einmal sprachlos. Sie stand noch mit offenem Munde da, als Max zur Tür hereinkam. Er sah die beiden Männer, wollte sich sofort umdrehen, einer der Beamten aber war schneller, packte Max, erklärte ihm, er sei festgenommen und alle drei verließen ohne weitere Erklärung Margaretes Wohnung. Von Max hörte sie nichts mehr, auch die Polizei meldete sich nicht bei ihr. Margarete war wieder allein. In gewisser Weise war sie froh, dass die Beziehung zu Max so ganz ohne ihr Zutun beendet war. Sie unternahm auch keinerlei Anstrengungen zu erfahren, was mit ihm weiter geschah, oder ihn im Gefängnis zu besuchen. Als sie ein paar Monate später erfuhr, dass er zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden sei, schloss sie dieses Kapitel ihres Lebens ab.
So leicht es ihr gefallen war, sich von Max auch emotional zu verabschieden, so schwer fiel es ihr, mit der neuen Situation als ledige Mutter von zwei Buben zurechtzukommen. Ernst war für sein Alter recht selbstständig. Natürlich war es für den "Großen" – er war ja gerade einmal sechs Jahre alt – nicht gut, dass sie oft erst spät abends nach Hause kam und er für sich allein verantwortlich war. ...
Für Margarete blieb die Hauptsorge, wie sie sich und ihre beiden Kinder über die Runden bringen konnte. Sie versuchte, möglichst dann "auf Stellung" zu gehen, wenn Ernst in der Schule war; aber dann musste sie den kleinen Gustl oft allein lassen. Hinzu kam, dass ihr Verdienst nicht reichte. Auch in manchen Bürgerhäusern wirkte sich die Kriegswirtschaft aus und Skrupel, eine Weißbüglerin zu entlassen, hatte niemand. Zwei Mal musste sie im Laufe des Jahres 1915 die Wohnung wechseln, jedes Mal wegen Mietrückstand. Ernst hätte dringend passende Schuhe gebraucht; weil das Geld nicht da war, musste er bis in die Herbsttage hinein barfuß laufen.
Im Juni kamen tatsächlich zwei Frauen von der Fürsorge und begutachteten die Situation. Sie stellten bei Gustav Hautschorf in Folge von Fehl- oder Unterernährung fest. Durchaus nicht unfreundlich erkundigten sie sich nach Margaretes Alltag und ihren Verdienstmöglichkeiten. Sie sahen Margaretes Dilemma und schlugen ihr vor, sie könne Gustav in vorübergehende Obhut von Kosteltern geben. Man wolle ihr es nicht antun, dass ein Gericht entscheide, der Junge müsse ihr weggenommen werden, sie solle es sich überlegen, man werde wiederkommen.
An Margaretes Situation und ihrer bitteren Armut änderte sich aber nichts, sie wusste auch nicht, wie sie zu einer Verbesserung hätte beitragen können. Sie war eine schöne Frau, und sie wusste auch, dass die eine oder andere ledige Mutter aus dieser Tatsache Kapital schlug, aber das kam Margarete allenfalls für einen kurzen Moment in den Sinn, ehe sie sich solche Gedanken selbst strikt verbot. So versuchte sie verzweifelt, mit ihren eigenen kärglichen Verdiensten den täglich härter werdenden Kampf ums Überleben zu bestehen. Die Lebensmittelläden, meist ohnehin leer, hatten oft geschlossen und an den Bezugsstellen für rationierte Lebensmittel und Waren gab es von morgens bis abends lange Schlangen.
Ernst, der jetzt schon sieben Jahre alt war, streifte mit größeren Jungen durch die Parks und angrenzenden Wälder und sammelte Brennholz. Auch dies wurde zur immer aussichtsloseren Tätigkeit, weil es in jedem Wald hunderte von Sammlern gab. Dasselbe galt für die begehrten Bucheckern. Für sechzehn Kilo entkernter "Buchele" bekam man die unvorstellbare Summe von zehn Mark. Aber alle Anstrengungen konnten Margaretes Lage nicht verbessern. Als Gustav ganz offensichtlich Fieber hatte und rasselnd atmete, ging sie mit ihm zu einem Arzt, der Arme behandelte. Dieser diagnostizierte Diphtherie, gab ihr Tabletten mit und empfahl strenge Bettruhe.
Gustav war kaum genesen, da kamen die beiden Frauen von der Fürsorge zum zweiten Mal. Es war offensichtlich, dass sich der Zustand Gustavs und die Situation Margaretes nicht zum Besseren gewendet hatten und auch keine Aussicht darauf bestand. Margarete argumentierte nicht mehr. Sie war sich inzwischen im Klaren, dass es sowohl für ihren kleinen Guschtl wie auch für sie und Ernst das Beste war, den Vorschlag der Fürsorge anzunehmen. Mit Ernst hatte sie schon gesprochen. Er hatte in einem etwas frühreifen Ton lakonisch gemeint: "S'werds beschte sei!" und sich recht leicht damit abgefunden, keinen kleinen Bruder mehr zu haben, hatten schließlich auch für ihn die damit verbundenen Belastungen gegenüber den Freuden eindeutig überwogen.
Margarete wartete also an jenem kalten Novembertag auf den angekündigten letzten Besuch der beiden Frauen. Sie kamen pünktlich und erklärten noch einmal ganz einfühlsam die juristische Situation. Margarete verstand nur halb, ließ die Erklärungen leise vor sich hin weinend über sich ergehen. Dann unterschrieb sie, dass sie einer Unterbringung von Gustav in einer Kostfamilie "bis auf weiteres" zustimme, dass sie keine Nachforschungen über den Verbleib des Kindes anstellen werde und alle Rechte über Verbleib und Aufenthalt des Jungen an die städtische Fürsorge abgebe.
Als die beiden Frauen gegangen waren, nahm Margarete ihren "Ernschtl" in die Arme, beide weinten eine Weile; Ernst eher, weil die Mutter traurig war, als aus einem Verlustgefühl heraus. Dann zwang sie die Kälte, die in der Wohnung entstand, weil das Feuer mangels Nachschub ausgegangen war, an diesem Abend früher als sonst den Schlaf zu suchen.
Am nächsten Morgen wurde Gustav abgeholt. ...
© Für die Textauswahl aus "DU hattest es besser als ICH: Zwei Brüder im 20. Jahrhundert" sowie die Abbildung des Buchcovers danken wir BookOnDemand vabaduse, ein Imprint der Westarp Verlagsservicegesellschaft mbH, 06/2021.
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