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Ist es nicht sonderbar, woran wir Menschen unsere Erinnerungen festmachen? Gerät doch fast jeder ins Schwärmen, wenn er von seiner heilen Kindheitswelt erzählt. Und dass überhaupt alles viel besser war zu jener Zeit. Das ist verständlich, denn die Erinnerung hängt ja an der Sicht eines Kindes.
Nehmen wir einmal die Kinder aus einigermaßen intakter Umgebung. Was für Sorgen hatte man damals denn schon? Ob man die Rollschuhe zu Weihnachten bekommen würde? Ob die Großen ahnten, wer das oder jenes kaputtgemacht hatte? Oder ob die Strafe für zu langes Spielen draußen mild ausfallen würde? Höchstens, dass Schulkinder sich Sorgen um ihre Freundschaften, Hausaufgaben oder das Nachsitzen machten. Sicher, das ist für ein Kind schon eine sorgenvolle Zeit – doch im Großen und Ganzen war das Leben einfacher. Die Erwachsenenwelt mit ihren Existenzängsten, und allem was so dazugehört, war ein völlig anderes Universum. Denn meist wurden solche Probleme von den Kindern ferngehalten.
Kinder wurden zu diesen Zeiten auf das reduziert, was sie waren: eben Kinder. Sie wussten nicht, was die Eltern verdienten, hatten keine Übersicht über Abzahlungen von Ratenkäufen, und von Politik hatten sie sowieso keine Ahnung, wenn sie noch nicht in die Pubertät gekommen waren. Das war sicher nicht immer vernünftig, aber man wurde dadurch auch geschützt. Heute tragen die Kinder einen Gutteil der Last der Erwachsenenängste. Es wird nicht mehr so sehr versteckt vor den Kindern. Aber der Wert scheint mir nicht sehr hoch zu sein.
Wenn wir heute also in Erinnerungen an die friedvollen Weihnachtsfeste oder Ferien schwelgen, erinnern wir uns an das Wesentliche. Nämlich die ungetrübte Freude. Wenn der letzte Schultag vor den großen Ferien zu Ende ging, war das Leben einfach großartig. Der Sommer war lang, ganz lang und nahm fast kein Ende. Nach sechs Wochen musste man sich erst wieder an die Schule gewöhnen.
In "Dienstanweisung für einen Unterteufel", einem Buch von Clive S. Lewis, erklärt ein Ausbilder einem unerfahrenen Teufel, wieso eine bestimmte Person ständig mit allem unzufrieden ist. Und eben ständig "früher war alles besser und heute gibt es so etwas gar nicht mehr" sagt. Nun, es liegt nicht am schlechteren Toast oder Tee – es liegt einfach daran, dass die Menschen früher zufriedener waren. Die Ansprüche waren nicht so hoch und so war vieles nicht so wichtig. Wenn eine Bedienung etwas langsamer war, bemerkte man das nicht. Der Bräunungsgrad von geröstetem Brot war nicht so wichtig. Jetzt aber fixiert man seine Wahrnehmung auf diese Dinge. Und ist somit ständig unzufrieden, weil es in kleinen alltäglichen Dingen so etwas wie Perfektion kaum geben kann.
So geht es uns wohl auch mit bestimmten Sachen, die unerreichbar scheinen, weil "so schöne Weihnachten wie früher, so schöner Urlaub, so gutes Wetter usw." heute unmöglich geworden sind. Dabei liegt es an der Wahrnehmung, nicht an den Dingen.
Regenwetter machte uns als Kindern nichts aus. Draußen waren wir trotzdem. Heute überlegen wir uns ernsthaft, ob wir überhaupt das Haus verlassen sollen, wenn es regnet. Weihnachten war längst nicht so üppig wie heute und auch keine riesige Lichterorgel. Aber für uns war es das Fest des Jahres. Wir wussten nichts von den Begleiterscheinungen. Hetze, Geldsorgen, Verwandtschaftsprobleme oder sonst etwas. Wenn wir heute an Weihnachten denken, kommen uns der Stress und die Festvorbereitungen in den Sinn. Für den Zauber haben wir vielleicht die Antennen verloren.
Ganz einfach: sich zurückversetzen lassen. Bei mir war es damals (im Frühsommer 1970) dieses unglaublich schöne Gefühl, das ich an einem sonnigen Samstag hatte. Das Wochenende war praktisch unendlich und gehörte mir allein. Da gab es tolle Filme im Fernsehen, ich konnte lesen, ohne an Hausaufgaben denken zu müssen (Schule gab es bis Januar 1970 noch an Samstagen) oder mit den Freunden draußen tolle Dinge machen. Ich durfte mit auf den Markt und atmete die ganzen Düfte dort, genoss die Vielfalt und die Betriebsamkeit um mich herum. Die obligatorische Bratwurst für mich läutete dann eine herrlich entspannte Zeit ein. Wie ein Versprechen war es, wenn um Punkt zwölf Uhr überall die Sirenen losgingen. Wieso, weiß ich heute immer noch nicht und auch nicht, wieso das abgeschafft wurde. Es war so eine Art Feiertagsklingel. Ab diesem Ton konnte man "es krachen lassen", sozusagen.
Und manchmal, wenn ich unterwegs bin und es gerade Samstag ist, holt mich diese Erinnerung ein. Dieser freudige, unbeschwerte Moment. Und da genieße ich das wie ein Sahnebonbon im Mund.
Auslöser gibt es viele für schöne Erinnerungen. Lässt man es zu, macht man eine Zeitreise zu einem Ort der kleinen, aber intensiven Freude. Ein kleiner Booster für das Wohlbefinden, könnte man das nennen. Wenn man es genießen kann, ohne gleichzeitig daran zu denken, dass "das ja nicht wiederkommt", hat man etwas sehr Wichtiges für sich entdeckt. Es kommt natürlich nichts wieder, aber ein kleiner Besuch ist ja gestattet, oder nicht?
© "Die Kunst der Erinnerung: Machen wir eine Zeitreise": Ein Essay von Izabel Comati (Pressenet), 03/2022. Die Abbildung zeigt das Zifferblatt einer Monduhr, CC0 (Public Domain Lizenz).
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