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Wochenendgestaltung ist angesagt und ich entscheide mich für das groß angekündigte Treffen der Grufties, Gothics oder wie sie sich auch nennen mögen. Groß zurechtmachen ist nicht notwendig, es wird ziemlich gut passen, denke ich. Vor der Stadt ist ein großer Bunker, den die Gemeinde irgendwann angekauft und renoviert hatte und der für außergewöhnliche Veranstaltungen herhalten muss. Mir soll es recht sein, es wird eine Menge los sein, das steht fest.
Ich kenne diese Leutchen mit diesen altertümlichen Klamotten und den schrägen Frisuren, sie gefallen mir. Diese Leutchen haben einen abgefahrenen Realitätsbezug, wenn man ihr Wandeln zwischen den Modestilen mehrerer Epochen in Betracht zieht. Bei einem wirklich authentischen Treffen könnten Historiker eine ganz neue Sicht gewinnen – solange sie ihre Aufmerksamkeit nur dem Äußeren schenken. Pseudomittelalter trifft Barock, könnte man sagen – bis auf die Steinzeit habe ich praktisch schon alles gesehen bei denen.
Es ist eigentlich langweilig, denn das alles ist nicht mehr neu für mich, aber meinen Zwecken kommt die Atmosphäre dort sehr entgegen. Als ich ankomme, bin ich dann doch überrascht, wie professionell die Veranstalter die Räume hergerichtet haben. Die Beleidigung meiner feinen Ohren geht von einer der angesagtesten Genrebands aus. Schwarze Kerzen überall in Nischen, Tücher und was weiß ich nicht alles. Feuerwehrleute drücken sich herum, das ist Pflicht und bei dieser Kerzenorgie wohl auch notwendig. Es riecht nach Räucherwerk aus dem Versandhaus und mein feines Näschen nimmt auch den zarten Duft von Gras wahr – das hat nichts zu bedeuten, mehr läuft eigentlich kaum bei den Mantel- und Umhang-Fans. Ich weiß nicht, wie lange einige der Mädchen vor dem Spiegel gestanden haben, um möglichst tot auszusehen, aber der halbe Nachmittag ist da sicher draufgegangen. Deshalb treibe ich mich so gerne an solchen Orten herum, denn bleiche Haut und Schatten um die Augen sind hier ein Muss.
Ich kann mir Zeit lassen, ich bin noch völlig entspannt in dieser Nacht und die Möglichkeiten sind immens. Hier und da taumeln einige langberockte Girlies von der Tanzfläche, wo sie wahrscheinlich ein Folteropfer unter hochnotpeinlicher Befragung inszenieren wollten – anders kann ich diese Art zu tanzen nicht beschreiben. Gelegentlich kommt eine rosig angehauchte Backe unter der weißen Schminke zum Vorschein, aber das zerlaufende Augen-Make-up überdeckt diesen Hauch von Lebensfrische eigentlich. Es ist heiß hier drinnen, die Leute bewegen sich dicht an dicht, und so manches hochtoupierte Haarskulpturenteil flacht ein wenig ab. Ich ziehe trotz meiner eigentlich typischen Klamotten so manchen Blick auf mich – aber auch das bin ich gewohnt. Hier ist bleich UND ätherisch angesagt – und mit letzterem kann ich nun mal nicht aufwarten. Meine Formen sind zu geschwungen, um als wandelnde Reklame für "Bewegung" durchzugehen.
Kann sein, die Hornbrille gibt da noch eins drauf – aber ich kann keine Kontaktlinsen benutzen. Hier sieht man nicht viele Brillenträger, wahrscheinlich stopfen sich die meisten solche kleinen Dinger in die Augen, weil es eigentlich kaum Brillen gibt, die zum Style passen. Hier sieht man Leute mit merkwürdigen Augenfarben, was mich in der Annahme bestärkt, dass die Brillen im Etui liegen für diese Nacht. Goldgelb oder giftgrün ... na ja. Hier und da sieht man auch welche, die Sonnenbrillen tragen, was ich für ein wenig gefährlich halte in dem schummrigen Licht hier. Mir macht das weniger aus, meine Kurzsichtigkeit tangiert meine Fähigkeit, mich im Dunkeln zu orientieren, nicht.
Es wird spät, und ich werde ein wenig zitterig langsam. Viele Grüppchen kleben in den dämmrig beleuchteten Nischen, versuchen desorientiert in ihre nachgemachten Schädelpokale zu starren – aber hier und da hört man etwas in der kräftigen Färbung des hiesigen Dialektes. Das zerstört die Illusion weitaus mehr als abblätterndes Weiß auf den Wangen, aber je später es wird, desto weniger stößt sich das Völkchen daran. Die Tanzfläche ist immer noch so dicht bestückt, dass niemand umfallen könnte, wenn er in Ohnmacht fiele, was bei der Luft hier drinnen durchaus passieren kann. Ich schiebe mich an Cliquen und Pärchen vorbei, nach Atem ringend und schwerfällig. In den künstlich geblendeten Spiegeln mit den falschen viktorianischen Ornamenten sehe ich mich aus den Augenwinkeln, wie ich dampfermäßig durch die Menge breche – ein mittelgroßer Dicker mit Hornbrille und sandfarbenen dünnen Haaren, eingehüllt in eine Menge schwarzen Stoff. Ich höre so einige Kommentare, aber das ist jetzt nicht mein Problem – ich muss für mein leibliches Wohl sorgen. So am Rand kriege ich noch mit, dass eine der Mitternachtgrazien "Der Umhang ist aber echt voll der Hammer" sagt.
Es gibt viele Notausgänge, und die Leute nutzen sie, um ein wenig frische Luft einzuholen, bevor sie sich wieder in die Riesengruft stürzen. Es muss kurz nach Mitternacht sein, das habe ich im Gefühl, als ich draußen stehe und mir den Schweiß von der Stirne wische. Das Außengelände ist weitläufig und von Büschen und Bäumen begrenzt – es sind fast genau so viele Leute hier draußen wie drinnen. Ich konzentriere mich und tauche in die nächtlichen Schatten hinein, verlasse mich ganz auf meine Sinne. "Hey, da ist ja der Dicke mit dem schicken Umhang", krächzt jemand vor mir und ich erkenne das Mädchen, das mir vorhin hinterhergezischelt hat. Sie steht ein wenig unsicher neben einem liegenden Baumstamm, über den sich ein Junge geworfen hat und wahrscheinlich beim Übergeben eingeschlafen ist.
Das Mädchen trägt ein schwarzes Samtkleid, ihr wahrscheinlich gefärbtes Haar hat den gleichen stumpfen Ton wie der Stoff. Großer Ausschnitt, eine angelaufene Kupferkette mit irgendeinem blödsinnigen Anhänger – ich kann den Kram nicht mehr sehen. Aber das spielt auch keine Rolle mehr, ich habe gefunden, was ich suchte. Ihr Kerl schnarcht vor sich hin ... ekstatisch und rhythmisch, der wird nicht stören. Ihr Dekolleté steht farbmäßig in krassem Gegensatz zu Hals und Gesicht, schimmert rosig im Schein des Mondes – ich könnte bei dem Anblick lyrisch werden und gehe langsam auf sie zu, sehr langsam. Ich will es eigentlich noch nicht, aber kann mich dem Drang nicht widersetzen. Ihre Dialektfärbung nimmt einen sehr satten Ton an, als sie mich fragt, was ich als Grundierung nehme – ihre Farbe ist tierisch zerlaufen.
Mit einem koketten Seitenblick auf den mit Rüschen besetzten Umhang, den ich trage, fragt sie mich dann auch tatsächlich, woher ich ihn habe. Sie hat keinen Instinkt, die Schöne der Nacht – sie lässt mich nicht nur nah an sich herankommen, sie streicht über die Rüschen und lächelt herablassend. Es tut mir nicht leid um sie, ihre Dummheit ist geradezu herausfordernd. Obwohl ... übergewichtige Vampire mit dicken Brillengläsern sind nicht das, was man erwartet – schon gar nicht auf einem Gothic-Festival. Dann denke ich an gar nichts mehr, während ich mich in sie versenke.
© "Bunkerfest – Es tut mir nicht leid um sie". Erzählung von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Bildnachweis: Luftschutzbunker, CC0 (Public Domain Lizenz).
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