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Anna hatte keine Lust auf die Fahrt gehabt, sie hatte Gründe für das Daheimbleiben gesucht und keine gefunden, deshalb saß sie jetzt in aller Frühe (gemein früh, hatte sie gesagt) am Steuer ihres Wagens und fuhr dem Wiedersehen mit ihrer Mutter entgegen. Verbissen versuchte sie, ihre Gedanken schweifen zu lassen, die allerdings wie festgeklebt am letzten Geburtstag Mariannes hingen. Sie nannte ihre Mutter in Gedanken immer Marianne, es war eine Art des Abstandhaltens. Und Abstand zu Marianne war immer notwendig.
Anna war eine von drei Töchtern, und sie war diejenige, die es am Weitesten geschafft hatte – dieses Wort bezog sich auf die Entfernung, nicht auf die Karriere. Anna schrieb Kinderbücher, was ihre Mutter als "kindisches Geschreibsel" abtat. Karen und Margot waren Ehefrauen von Beruf, ebenso Mütter. Erfolgreiche Ehemänner waren etwas, das Mutter sehr schätzte – vor allem, da sie mehrere davon verschlissen hatte. Außerdem wohnten die Schwestern und die lieben Kleinen in der gleichen Stadt wie Mama. Aus der Reihe tanzte nur Anna: ledig, kinderlos, berufstätig.
Wie auch immer – der letzte Geburtstag, es war der 62. gewesen, geriet in Annas Erinnerung zur Katastrophe. Nicht, dass sie ihre beiden Schwestern beneidet hätte um deren Familien. Die Ehemänner der beiden waren sich so ähnlich, sie hätten Zwillinge sein können. Etwas schwer geworden mit den Jahren, zurückweichende Haaransätze und teure Brillengestelle. Und die Frauen sahen kaum anders aus ... schicke aber dezente Frisuren, wohlgerundete Figuren und unaufdringlich elegante Kleidung. Ansehen tat durchaus nicht weh, aber das Zuhören schon. Und sie waren nun einmal zu fünft gegen Anna, die jetzt noch ebenso wenig hineinpasste wie damals ... wuschelige, ziemlich kurze Haare, kaum Make-up. Sie trug meist Jeans und Pulli, weil das praktischer war. Für Marianne machte Anna ein winziges Zugeständnis – nämlich Leinenhose und Slippers. Das musste reichen und tat es natürlich nicht.
Mama machte das Geschenk herunter (einen verdammt teuren Kaschmirschal), nörgelte an den Klamotten Annas herum und stimmte sich auf ihr Lieblingslied ein: "Wieso ist meine jüngste Tochter nur so eine Versagerin?" Anna versuchte immer wieder – und hasste sich dafür – ihrer Mutter zu erklären, dass heiraten und Kinderkriegen sicher eine feine Sache war, aber eben nicht für sie, für Anna. Sie mochte Kinder sehr, schließlich schrieb sie für sie ihre Geschichten – aber eigene hatte sie nie haben wollen. Das hatte nichts damit zu tun, dass sie Frauen liebte, es ging da um Verantwortung und um ihre eigene Kindheit. Na gut, wenn Marianne heute fragen würde ob "es nicht endlich jemanden in ihrem Leben gäbe", könnte sie mit gutem Gewissen verneinen. Sie und Hella hatten sich vor zwei Monaten getrennt. Es tat immer noch verdammt weh, aber Anna hatte akzeptiert, was nicht zu ändern war. Die Jahre vorher hatte sie gelogen, wenn sie bei Mutter zu Besuch war ... hatte von "Bekanntschaften" gesprochen und das Wort "Mann" vermieden. Marianne wusste nichts von Hella, sowenig wie von Petra und Frauke. Die Flirts dazwischen waren selbst für Anna irgendwo im Gehirn in einer Ablage verschwunden.
Die Wahrheit war, dass Anna sich für ihre Feigheit verachtete, sie hasste diese unheilige Angst vor Mariannes Reaktion, sollte sie jemals erzählen, wieso Mann und Kind nicht infrage kämen. Herrgott, sie kriegte es nicht einmal hin, diesem Geburtstag fernzubleiben. Dabei wären ihr auf Anhieb tausende von wichtigeren Dingen eingefallen. Sie WOLLTE da nicht hin, aber sie hatte den Autopiloten eingeschaltet, welcher irgendwie mit Marianne in Verbindung stand und sie zwang, zu ihr zu fahren. "Blödsinnige Idee", dachte Anna und nahm den Fuß vom Gas. Sie musste ja nicht schneller, als es sein musste, dort ankommen. Und da sah sie ihn, er stand lässig am Randstreifen, hielt nicht einmal den Daumen hoch. Irgendetwas an ihm brachte sie dazu, den Wagen anzuhalten und die Beifahrertüre aufzumachen.
Anna hörte in Gedanken ihre Mutter zetern, denn die wäre bei dem Gedanken, einen Anhalter mitzunehmen, überaus schockiert gewesen. Und wenn sie diesen hier gesehen hätte, wäre es wohl ein sehr tiefer Schock gewesen. Der Mann war in mittlerem Alter, er hatte schulterlanges, dunkles Haar, das mit weißen Strähnen durchsetzt war. Jeans, Stiefel, derbe Jacke und eine Art Seesack – das war für Marianne so etwa der Stoff, aus dem Verbrecher gemacht waren.
Der Mann bedankte sich zuvorkommend und sah Anna offen in die Augen – sein Gesicht war freundlich, wenn auch in keiner Weise hübsch oder attraktiv. 'Muss mal eine üble Akne gehabt haben', dachte sie, denn viele kleine weiße Narben zierten die Wangen. Die Nase schien einmal gebrochen gewesen zu sein, und der Mund war leicht schief. Dennoch machte der Kerl keinen üblen Eindruck, vielleicht seiner Augen wegen, die grau und irgendwie verträumt waren.
Dann begann er zu sprechen. Sein Deutsch war nicht schlecht, nur etwas altmodisch. Vielleicht hatte er es so in England gelernt, als er jung war. Aber etwas an seinem Akzent war sonderbar, das fiel Anna auf. Sie liebte England und hatte schon oft ihren Urlaub dort verbracht. Etwas an der Art, wie er manches aussprach, war anders, aber es klang sehr sympathisch. Lance, das war der Name, den er nannte, erzählte, dass er eine Reise hinter sich hatte ... hatte sie sich verhört oder hatte er eher das Wort "Queste" benutzt? Jedenfalls war er auf dem Heimweg. Und dann fragte er sie, wohin sie fuhr ... und ohne, dass Anna wusste, wieso sie dazu kam, erzählte sie ihm von sich, von Marianne, von Hella, von ihrer Angst und ihrem Ärger.
"Wie hat sie dich in der Gewalt?", fragte er. Und dann lachte er wieder und wieder ... überhaupt lachte er viel. Er fand Annas Geschichten sehr lustig, aber als sie von Hella erzählte, legte er ihr die Hand auf den Arm und nickte ernst. Dann begann er von Liebe zu erzählen, und Anna hörte ihm zu. Alles verstand sie nicht, aber es ging um eine Frau, die er sein ganzes Leben lang verehrt und geliebt, besessen, und immer wieder verloren und wiedergewonnen hatte. Anna war nicht sicher, ob es sich um ein und dieselbe Frau handelte, aber das war nicht wirklich wichtig. Es war einfach eine Geschichte von Suchen und Finden, von Verlieren und Wiederfinden. Dann sprachen sie von Zielen, und Lance lächelte – er hatte keine Ziele, er hatte Aufgaben. Und darum kümmerte er sich, und das seit sehr langer Zeit.
Anna fühlte sich ein wenig benommen – nicht so, dass es das Fahren erschwert hätte, aber dieser Mann da neben ihr schien ihr zunehmend wie "nicht von dieser Welt". Die Dinge schienen einfach für ihn zu sein, er hatte ungläubig gelächelt, als sie sagte, dass sie eigentlich gar nicht zu Marianne fahren wollte. Sein kaum merkliches Kopfschütteln war ihr nicht entgangen ... und als sie ihm von ihrer Angst erzählte, ihrer Mutter endlich klaren Wein einzuschenken, was ihre Beziehungen betraf, da zog er seine Brauen zusammen. "Wieso ist es wichtig?", fragte er und sah Anna neugierig an. "Das ist deine Liebe, es betrifft sie nicht." Er sagte das auf solch schlichte Art, dass Anna sich tatsächlich selber fragte, wieso das so wichtig sein könnte. Sie MUSSTE es ihrer Mutter nicht sagen, denn die wollte es nicht wissen. Es war Anna, die es auf eine sonderbare Art sagen WOLLTE – auch wenn sie wusste, dass sie es nicht fertigbringen würde. Und während sie das dachte, hörte sie ihren Mitfahrer fragen: "Warum fährst du hin? Sie wartet nicht auf dich." Und Anna dachte erstaunt, dass er recht hatte. Marianne wartete nur auf die Konfrontation, nicht auf ihre Tochter.
"Komm mit mir, für eine Weile", sagte Lance dann und sah Anna in die Augen. "Ich zeige dir andere Wege, andere Geschichten und ...", er zwinkerte sie an, "... andere Frauen. So wie du sie hier nicht finden wirst, ihr habt viel gemeinsam. Du bist eine Kriegerin, aber du weißt es nicht." Dann sagte er noch andere Dinge, erzählte von seinem Leben und seiner Heimat und wie er sich dafür entschieden hatte, ALLE Welten zu bereisen. Dann wendete Anna den Wagen und fuhr nach den sicheren Anweisungen, die Lancelot vom See ihr gab.
© Text und Foto zur Erzählung "Letzte Ausfahrt Avalon": Winfried Brumma (Pressenet), 2012.
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