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Seit die Fantasy-Literatur sich von den Kindermärchen – die waren ja nichts anderes – emanzipierte, hat sich unserer Welt, in der wir täglich leben, eine weitere angefügt. Da gibt es fest installierte Typen wie die Orks oder die Hobbits, die von J. R. R. Tolkien erfunden und in gewisser Weise lebendig gemacht wurden. Zu den Immigranten zählen noch weitere interessante Wesen, und jeder Liebhaber des Genres kennt sich aus. Aber bevor der Autor der Ringtrilogie seine Welt für die Leser zugänglich machte, gab es andere Mächte, vor denen man Angst hatte.
Die Mythologie ist ein wahres "Who is Who" für andersweltliche Existenzen – man begegnet Werwölfen, Irrlichtern, Gnomen und Zwergen sowie natürlich Nixen oder Kobolden. Diese letzteren wurden schon immer gerne für kleinere Unglücksfälle oder Unfälle verantwortlich gemacht. Die Milch wurde sauer, ein benötigter Gegenstand fehlte plötzlich ... das war wohl das Werk der Kobolde. Die nämlich mochten einen guten Spaß auf Kosten der Menschen sehr – außer natürlich den "gezähmten" Hauskobolden, die sich gut betrugen, wenn man sie mit Proviant versorgte. Es konnte sogar sein, dass sie sich als hilfreiche kleine Mitbewohner erwiesen.
So einen Kobold stellte man sich meist als winzigen, meist runzeligen und großnasigen Kerl vor, der ein spitzes Hütchen oder sonst eine witzige Kopfbedeckung trägt. Einer aus der großen Sippe der Wichtel eben, die eigentlich zu den Elementarwesen gehören – nach neuesten Forschungen jedenfalls. Zu den Elfen und Kobolden gehört auch die Legende von den Wechselbälgern, bei denen es sich um in der Wiege vertauschte Säuglinge handelt. Der Kobold wächst also bei den Menschen heran, während das eigentliche Kind fortan in der Welt der Kobolde lebt. Wann immer ein Kind seinen Eltern Ungemach bereitete, wird man wohl den Spruch vom Wechselbalg gebraucht haben, und leider auch bei Kindern, die eine körperliche Besonderheit aufwiesen.
Geschichten, die diese alte Legende zum Thema haben, gibt es nicht viele – und Keith Donohues "Das gestohlene Kind" ist eine davon. Donohue beschreibt in seinem Buch einen solchen Tausch, und zur Verwunderung des Lesers ist alles völlig anders, als man sich das vorstellt. Die Kobolde sind keine kleinen Wichte mit lustigen Klamotten, es sind Wesen, die in einem Kinderkörper gefangen sind und auch darin verbleiben, bis sie tauschen können. Es gibt auch kein unterirdisches Koboldland mit putzigen Lämpchen und Kürbiskutschen, die von Mäusen gezogen werden oder sonst etwas, das den Klischees entspricht.
Donohues Kobolde sind Lichtjahre von Walt Disney entfernt – sie ähneln eher Straßenkindern, die sich mühsam einen Platz zum Schlafen suchen müssen und monatelang nicht aus ihren Klamotten kommen. Sobald ihnen ihr Zeug fast vom Leib fällt, klauen sie sich etwas neues. Sie sind hungrig, leben von dem, was der Wald bietet: einige essen Insekten, andere verschmähen das und leben von Beeren, Nüssen oder Wurzeln. Und natürlich von dem, das sie stehlen können.
Es gibt eine strenge Hierarchie unter ihnen, und wenn es Zeit für einen Tausch ist, wird ein geeignetes Kind ausgewählt und observiert, bis der Kobold alles, aber auch alles weiß über das Leben desjenigen, der entführt werden soll. So geschieht es dem kleinen Henry Day. Er findet sich plötzlich gefesselt im geheimen Lager der Kobolde wieder, verängstigt und entsetzt. Er war fortgelaufen in kindlichem Zorn und lief seinen Entführern geradezu in die Arme.
Der Kobold, der sich unter Schmerzen die Haut und die Glieder so zurechtgedehnt hatte, dass er dem kleinen Henry völlig gleicht, lässt sich derweil von den Suchtrupps finden. Und er agiert genau wie Henry das getan hätte: er wird in der Familie aufgenommen. Böses will er nicht, er will nur wieder ein Leben haben. Aber es geschehen unvorhergesehene Dinge: der Wechselbalg ist musikalisch hochbegabt. Das war Henry keineswegs. Der Tauschling wird neugierig und stellt Nachforschungen an: wer war er, bevor er entführt wurde vor langer, langer Zeit. Und er findet eine Wahrheit, die ebenso verblüffend wie anrührend ist.
Das Misstrauen des Vaters wird geweckt – die Familienatmosphäre wird trist dadurch. Und Henry selber – von den anderen im Lager "Aniday" genannt, lernt mit diesem Leben zurechtzukommen. Auch er, so erfährt er, wird irgendwann wieder tauschen, wenn er an der Reihe ist.
Das Buch erzählt gleichzeitig beide Geschichten – die des Kobolds und die des Kindes ... und beide wissen voneinander. Sie werden sich begegnen und werden sich vergeben – der Weg dorthin ist hart und manchmal anrührend, phantasievoll wie ein Märchen und manchmal schmerzhaft realistisch. Die Situation der Kobolde ändert sich dramatisch, ihre Spezies ist eine bedrohte, ihrer Lebensweise wegen. Man ist durch einen Unfall bei einem neuerlichen Tausch auf sie aufmerksam geworden, und das hat Folgen.
Keith Donohues Buch ist eines der Geschichten, die man mit bleibendem Staunen liest, oder sie (außer man wird erheblich gestört) verschlingt. Und so soll ein Märchenbuch sein – auch wenn es nichts mit den Märchenbüchern der Kindheit zu tun hat.
© "Die Wahrheit über Kobolde: Das gestohlene Kind": Rezension von Winfried Brumma (Pressenet), 2013.
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