|
Zwielicht, das deutsche Horrormagazin, ist Ende 2020 in seiner 15. Ausgabe erschienen. Dämmriges Licht, verschwommene Konturen. Die Realität hat einen Riss. Aus ihr heraus treten die unterschiedlichsten Geschichten: Zum Nachdenken anregend, beängstigend, erschreckend.
Wir freuen uns, dass wir eine Leseprobe aus der unheimlichen Short Story "Heimatabend" präsentieren dürfen. Die historisch-fantastische Erzählung des Autors Martin Schemm spielt im Jahre 1911 im Süden von Hamburg und schildert ein rätselhaftes, gespenstisches Erlebnis.
"Seien Sie fest in Ihren Entschlüssen. Wägen Sie das Für und Wider vorher genau ab; aber wenn Ihr Wille einmal erklärt ist, gehen Sie um alles in der Welt nicht davon ab."
König Friedrich Wilhelm III. von Preußen (aus einem Brief an Herzog Karl von Württemberg)
Die Geschichte, die ich erzählen möchte, ereignete sich im dunklen, unwirtlichen November des Jahres 1911. Mein Los war es, die rätselhaften Geschehnisse jener Nacht vom Anfang bis zum Ende leibhaftig mitzuerleben. Sie bleiben für alle Zeit zweifellos das Seltsamste, das mir und auch den anderen, die seinerzeit Zeugen wurden, jemals widerfahren ist. Damals – fast ein halbes Menschenleben ist seither vergangen – brachte die Geschichte die Grundfesten meines Daseins ins Wanken. Heute, mit der abgeklärten Ruhe des hohen Alters, eignet sie sich allemal für eine heimelige Runde am prasselnden Kaminfeuer, wenn draußen der frostige Wind ums Haus bläst und den Regen gegen die Fensterscheiben peitscht.
Bei einem heißen Grog und einer edlen Zigarre erwecke ich den alten Schauder gerne zu neuem Leben, um am Ende in den starren Gesichtern der Zuhörer den gleichen Schrecken zu lesen, den wir damals selbst empfanden. Denn auch wenn ich nach all den Jahren irgendwie meinen Frieden mit dem unerklärlichen Mysterium gemacht habe, treibt irgendetwas mich doch an, die schwere, rätselhafte Last auf weitere Schultern zu verteilen.
Nun, wie gesagt, der November 1911 war ein düsterer Monat. Kaum einmal ließ sich die Sonne am Himmel blicken, das Land an der Elbe lag unter einer dichten, grauen Wolkendecke. Kalte spätherbstliche Stürme jagten über Geest und Heide, allzu viel Regen weichte die Erde auf. Jedermann mied das Wetter, blieb lieber daheim in der warmen Stube.
Gleichwohl hatten wir Heimatfreunde uns an jenem unwirtlichen Abend auf den Weg zum Falkenberg gemacht. Der knapp siebzig Meter hohe bewaldete Hügel erhob sich als weithin auffälliger Kegel in der Neugrabener Heide und bot bei gutem Wetter eine schöne Aussicht über die Elbe hinweg bis nach Hamburg. Seit vor einigen Jahren auf seiner Kuppe die Gastwirtschaft "Burg Störtebeker" errichtet worden war, traf sich unsere Herrenrunde, der kleine Verein der "Geest-Freunde", dort einmal im Monat, um über die Heimat, die große Politik und jedweden Klatsch und Tratsch zu reden.
Kein anderer Gast war an diesem Abend in der "Burg Störtebeker" zugegen, sodass wir fünf mit dem Wirt allein im Schankraum saßen. Das Lokal verdankte seinen Namen der alten Legende, dass angeblich einstmals die Piraten Klaus Störtebeker und Gödeke Michels auf dem Falkenberg ihr Versteck hatten. Es wurde gar gemunkelt, sie hätten ihre reiche Beute hier in der Tiefe verborgen, was im Laufe der Zeiten gar manchen Schatzgräber auf den Plan rief. Am Ende wurde jedoch nie etwas gefunden. Gleichwohl ist der Falkenberg einer jener Orte mit geheimnisvoller Aura, wie sie nur wenigen Stätten zu eigen ist. Man vermag gar nicht genau zu sagen, was die Wirkung ausmacht, doch man spürt sie unweigerlich. Der Vorsitzende unseres Vereins, Hein Braake, hielt den Hügel jedenfalls für eine höchst würdige Heimatstätte und bestand entschieden darauf, stets hier oben zu tagen.
Draußen tobte der böig aufbrausende Wind um das niedrige Gebäude, das ringsherum von einer breiten, überdachten Veranda umgeben war und über dem sich ein kleiner hölzerner Aussichtsturm erhob. Manches Mal steigerte sich das stete Rauschen des Herbststurms gar zu einem unheimlichen Heulen. Zweige und Äste wurden gegen die Wände des Hauses gepeitscht und Regen prasselte auf das flache Dach hernieder.
"Was ein Wetter ...", brummte Wilhelm Bode, seines Zeichens Bauunternehmer aus Harburg. Er schüttelte missmutig den Kopf, kratzte sich am gepflegten weißen Kinnbart und starrte durch die Fensterscheiben des Schankraums in die Nacht hinaus. Dort war, so weit das Auge reichte, nicht mehr zu sehen als tiefe Finsternis, lediglich in nördlicher Richtung waren schwach einige ferne Lichter der Gemeinden Neugraben und Hausbruch auszumachen.
"Wo bleibt der Fürst?", stellte Johann Rosenfeld die Frage, die uns allen auf der Zunge lag. "Sonst ist er immer der Erste, der kommt ..." Ein spöttisches Schmunzeln huschte über sein hageres Gesicht. Johann war Rechtsanwalt und Teilhaber in einer erfolgreichen Kanzlei mit Sitz in Eimsbüttel. Von uns allen hatte er stets die längste Anreise zum Falkenberg, wobei er seit Neuestem glücklicherweise den erst jüngst fertiggestellten Elbtunnel benutzen konnte. ...
Die Horror-Anthologie "Zwielicht 15" wurde Mitte Dezember 2020 als Taschenbuch mit 294 Seiten veröffentlicht (ISBN 979-8582913894). Wie alle anderen Horrormagazine aus dieser Serie gibt es diesen Titel auch als E-Book.
Das deutsche Horrormagazin "Zwielicht 15" bietet die gewohnte Mischung aus Kurzgeschichten, Übersetzungen und Textbeiträgen. Das Titelbild gestaltete der Illustrator Björn Ian Craig.
Alle Geschichten in "Zwielicht 15":
Martin Schemm – Heimatabend
Silke Brandt – Der vierte apokalyptische Reiter
Tobias Lagemann – Nachtschalter
Holger Vos – Rast der Kraniche
Christophe Nicolas – Der Pitch
Dirk Ryll – Wohin der Grimm der Toten verschwindet
Karin Reddemann – Ansichtssache
Vincent Voss – Das Ordnungsamt und das Hexenhaus
Martin Mächler – Verschränktes Schicksal
Arthur J. Burks – Stalagmiten (1935)
Ralph Williams – Kleines Missverständnis (1957)
Algernon Blackwood – H.S.H. (1917)
Weitere Textbeiträge:
Karin Reddemann – Teuflische Flüche, eine bitterböse Witwe und ein grausig ungesunder Schönheitssegen
Silke Brandt – Unter dem Zeichen der Sanduhr: Betagte Protagonisten in der Dunklen Phantastik
Niels-Gerrit Horz – Cultes des Ghoules and Others
Mehr Horror und Phantastik lesen: Unheimliche Literatur von Christian Weis: "Kleiner Vogel, flieg!" (aus dem Horrormagazin "Zwielicht 6").
© Die unheimliche Short Story "Heimatabend" stammt von Martin Schemm. Dem Herausgeber Michael Schmidt sowie den beteiligten Autoren danken wir herzlich für diese Leseprobe und das Coverbild, 01/2021.
Archive:
Jahrgänge:
2022 |
2021 |
2020 |
2019 |
2018 |
2017 |
2016 |
2015 |
2014 |
2013 |
2012 |
2011 |
2010 |
2009
Themen:
Autor werden |
Buch-Rezensionen |
Ratgeber |
Sagen & Legenden |
Fantasy Mythologie |
IT & Technik |
Krimi Thriller |
Fachartikel & Essays |
Jugend- & Kinderbücher |
Bedeutung der Tarotkarten |
Bedeutung der Krafttiere
Noch mehr Bücher lesen (Werbung):
Fantasy & Science Fiction
| Krimis & Thriller
| Ratgeber
| Reise & Abenteuer
Sie schreiben anspruchsvolle Romane und Erzählungen? Wir suchen neue Autorinnen und Autoren. Melden Sie sich!
Wenn Sie die Informationen auf diesen Seiten interessant fanden, freuen wir uns über einen Förderbeitrag. Empfehlen Sie uns auch gerne in Ihren Netzwerken. Herzlichen Dank!
Sitemap Impressum Datenschutz RSS Feed