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Als Yvonne in dieser Nacht in ihrem Bett lag, wurde ihr bewusst, dass sie so gut wie überhaupt nicht mehr an das, was hinter ihr lag, gedacht hatte. Christoph, und alles was dazugehörte, wie die Therapie und die schlimmen letzten Jahre, waren weiter weggerückt in nur zwei Tagen. Und ihre derben Laufschuhe hatte sie erst im Schlafzimmer ausgezogen, wo die in den Sohlenprofilen getrocknete Erde mit Sicherheit ein hübsches Muster auf dem Boden machen würde, wenn sie die Schuhe anzog.
Früher hätten die Latschen mit gebürsteten Sohlen zusammen an ihrem Platz gestanden und Yvonne hätte das mehr als einmal noch kontrolliert vor dem Schlafengehen. Aber jetzt grinste sie bei dem Gedanken, denn ihr fiel die Hündin ein. Kurz bevor das Dorf in Sicht kam, hatte sie umgedreht und war verschwunden, aber Yvonne wusste, dass sie wiederkommen würde.
Der nächste Tag war erst einmal dringenden Einkäufen vorbehalten und so ließ sich Yvonne von Frau Schicker beraten, die wie jeden Morgen am Häuschen vorbeikam und die ihr sehr genau beschrieb, wie sie zum nächsten Einkaufszentrum kommen würde. Für diese Expedition ging der gesamte Vormittag drauf, aber als Yvonne wieder zurückkam und den ersten gefüllten Karton den Steinweg entlang zum Haus trug, stolperte sie fast über die Hündin, die quer vor den Steinstufen zur Eingangstür lag und döste.
"Du bist aber ein kluges Mädchen", sagte die überraschte, aber sehr erfreute Frau. Die Begrüßung fiel weit weniger zurückhaltend aus als am vorigen Tag, und Yvonne bat die neue Freundin ins Haus. Dort half die Hündin eifrig beim Auspacken, denn Yvonne zeigte und kommentierte jedes Stück. Wirkliches Interesse brachte die Hündin aber vor allem für die Hundeleckerli und den riesigen Büffelhautknochen auf, den Yvonne mitgebracht hatte. Abgemagert sah das Tier durchaus nicht aus, eher wohlgenährt, wenn auch schlank. Das Fell glänzte und das Gebiss war tadellos weiß und einigermaßen beeindruckend.
"Richtige Wolfsfänge", dachte Yvonne bei sich. Und da kam die Frage wieder auf, die sie zu verdrängen suchte seit dem Tag gestern. Nämlich die, wem dieser herrliche Hund gehörte. Eine Streunerin war sie sicherlich nicht, denn dafür sah sie viel zu gepflegt aus. Unwillig schüttelte Yvonne den Kopf, denn vor ihnen lagen noch so viele Tage – man würde weitersehen, wenn der Urlaub vorbei war.
Irgendwann am Nachmittag, nach einem reichhaltigen Imbiss und einem lustigen Gerangel mit viel Kraulen und Japsen, verschwand die Hündin, und Yvonne machte sich auf der Couch mit den bunten Kissen lang ... die Fahrerei hatte sie müde gemacht. Erst in der Dämmerung erwachte sie wieder und setzte sich gähnend auf – sie hatte lange geschlafen. Als sie sich einen Kaffee zurechtmachte, dachte sie an ihre Freundin – sie fand gar nichts dabei, die Hündin so zu nennen. Denn was war wohl Freundschaft anderes, als dieses wortlose Verstehen, das es zwischen ihnen gab, wie wohl immer zwischen Mensch und Hund, die einander respektierten.
Als damals Tarzan gestorben war, hatte sie gedacht, dass ihr selber ein Stück abhanden gekommen war, selbst ihr Vater, mit dem sie so viel verband, hatte ihr da nicht helfen können. Mit Menschen war es einfach schwieriger, wenngleich ihre Arbeit sie zu einem sehr guten Beobachter gemacht hatte. Ihr Schwerpunkt war die Landschaftsfotografie, aber trotzdem waren ihre Portraits beliebt bei den Kunden, sie hatte einen Blick dafür.
Mit dem Becher trat sie vor die Haustüre, um den Sonnenuntergang zu beobachten und die laue Abendluft zu genießen, und der schon sehr gut sichtbare Vollmond hing wie ein Lampion aus Reispapier über dem nahen Tannenwald und sah aus wie für eine Postkarte hingemalt. Sie war nicht überrascht, als eine feuchte Schnauze sie am nackten Knie berührte. Die schöne Graue lief aufgeregt hin und her, als wolle sie Yvonne zu einem Spaziergang im Mondschein einladen, und als ob sie nur darauf gewartet hätte, stellte sie tatsächlich den Becher ab und lief mit.
Eine Vollmondnacht im Wald ist etwas, das man erlebt haben muss, um zu verstehen, wie anders alles ist, wie regelrecht verzaubert. Ohne die geringste Angst folgte Yvonne der Hündin und sah Dinge, die ihr "eingebautes Objektiv" normalerweise zum Surren gebracht hätten. Doch sie dachte nicht einmal an eine Kamera in dieser Nacht, sie sah mit Augen und dem Herzen, sogar mit ihrer Haut, die jede Luftströmung wahrnahm, alle Wunder der Nacht.
Der Mond ist ein begnadeter Maler ... er taucht Pflanzen, Wasser oder ganze Wiesen in ein silbernes Licht und macht sie zu Märchendingen. Und die Stimmen der Nacht, erstaunlich viele – sie hatte eigentlich angenommen, dass die Nacht auf dem Land still sei – steuerten die Musik zu den herrlichen Bildern bei.
Immer war die Hündin an ihrer Seite, lief vielleicht einige Schritte vor in ihrem eigentümlich trabenden Gang oder blieb etwas zurück, um dann spielerisch angeprescht zu kommen. Die Unbeschwertheit des Zusammenseins erinnerte Yvonne an irgendetwas, das sie nicht greifen konnte in diesen Momenten, und sie zerbrach sich nicht weiter den Kopf darüber. Aber diese Nacht würde sie zu den denkwürdigsten Erinnerungen ihres Lebens zählen, wenngleich sie wusste, dass weitere folgen würden. Doch dieses verzauberte erste Mal konnte sich nie wiederholen.
So gingen die nächsten Tage dahin, mit Spaziergängen und Toben und Ruhe. Noch nie hatte jemand nach dem Hund gefragt, obwohl Yvonne das eigentlich erwartet hatte. Den größten Teil des Tages verbrachte "Freundin" nun in Yvonnes Gesellschaft. Das musste ihrem Besitzer doch eigentlich auffallen – aber nie wurde Yvonne von irgendjemandem darauf angesprochen. Das nächstliegende, nämlich Frau Schicker zu fragen, vermied sie, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben.
In der vorletzten Woche fing es an zu regnen, und zwar in solcher Qualität, dass es unsinnig war, das Haus zu verlassen. Freundin lungerte im Wohnzimmer herum und ließ sich mit Leckerbissen verwöhnen und bürsten. Dabei streckte sie sich wie eine riesige Katze und genoss mit halbgeschlossenen Augen die Prozedur. In einer Kiste im Flur hatte Yvonne beim Stöbern Bücher entdeckt, ziemliche Schwarten eigentlich, aber auch einige Bildbände. Einer über die Alpen mit Schwarzweiß-Fotos, einer über "modernes Stadtleben" aus dem Jahre 1955, und einer über Wölfe.
Letzteren nahm sie mit auf die Couch und blätterte interessiert darin. Tierfotografie war keine einfache Sparte, und die Naturfotografen waren eine Klasse für sich. Der Band zeigte großformatige Aufnahmen von wildlebenden Wölfen in Europa und war faszinierend. Yvonne vertiefte sich in die wirklich beeindruckenden Aufnahmen, als ihr Blick plötzlich auf die schlafende Freundin fiel. Und dann wurde ein minutenlanges Starren daraus. "Meine Güte Yvonne, das hat aber gedauert", flüsterte sie fassungslos nach einiger Zeit. Denn das schlafende Tier mit den schmalen Läufen, dem buschigen Schwanz und dem überaus intelligentem Blick war mit Sicherheit kein hübscher Hundemischling – es war ein Wolf.
Die hellbraunen, schon mit einem Anflug in das gelbliche schimmernden Augen hatte sie diesem besonderen Schlag zugeschrieben. Obwohl sie im Mondlicht völlig anders ausgesehen hatten wie die eines Haushundes, war Yvonne einfach nicht darauf gekommen. Aber das war wohl auch die Erklärung dafür, dass niemand das Tier vermisste – es war sicherlich in einem Wolfsgehege zu Hause und trieb sich unbemerkt herum. Vielleicht hatte sie einen Weg gefunden, um unbemerkt kommen und gehen zu können. Oder sie gehörte doch einem Menschen, der kein Aufhebens davon machte, wenn seine Wölfin in eigener Sache unterwegs war – denn es machte sich gar nicht gut, wenn man herumfragte, ob jemand seinen Wolf gesehen hätte.
Yvonne hatte sich nie damit beschäftigt, aber ihr war durchaus klar, dass jeder, der mehr davon verstand, sofort erkannt hätte, was Freundin war. Ein Knurren weckte sie aus ihren Gedanken, Freundin schaute sie mit schiefgelegtem Kopf an und gab ihrer Meinung zu der Lektüre Ausdruck. Wieder hatte Yvonne das Gefühl, dass sie irgendetwas Wichtiges nicht greifen konnte – etwas, das sie wusste, aber nicht erkennen konnte. Aber sie legte den Band hin und folgte der Wölfin in den Abend hinaus, denn der Regen hatte vorerst aufgehört.
Die folgenden Tage waren für Yvonne angefüllt mit stetiger Verwunderung darüber, dass sie einen Wolf zum Freund hatte. Sie konnte und wollte sich ihr Leben ohne Freundin kaum noch vorstellen, aber damit würde sie sich bald auseinandersetzen müssen, denn das Ende der Ferien rückte näher. Was würde das Tier tun, wenn sie plötzlich wegfuhr und nicht wiederkam – es gab ja keine Möglichkeit, es zu erklären. Das wurde zu einem steten Gedanken für Yvonne, zu einer fixen Idee.
An ihre eigene Gesundung hatte sie lange nicht mehr gedacht, sie hatte es einfach vergessen und nahm nicht einmal wahr, dass sie sich eine entspannte und angenehme Schlampigkeit angeeignet hatte, die zwar noch überschaubar, aber eben doch vorhanden war. Ihre Gesundung hatte stattgefunden, ohne dass Yvonne es auch nur bemerkt hatte. Vage dachte sie an die Stadt, in der sie lebte, und wunderte sich auch darüber, dass Sabine sich nicht gemeldet hatte, obwohl das doch abgemacht war.
Als Yvonne ihr Handy einschalten wollte, hatte sie Mühe, sich an die Pin-Nummer zu erinnern – sie hatte sich in den wenigen Wochen auf eine Weise von ihrem bisherigen Leben entfernt, die sie nie für möglich gehalten hatte. In den letzten Tagen vor der Abreise verbrachte Yvonne jede Minute mit Freundin, die sich – als wüsste sie um die Abreise – ständig bei ihr aufhielt. Beide lagen aneinandergekuschelt auf der mittlerweile recht wölfisch duftenden Couch oder saßen auf den Steinstufen vor der Haustür, wenn sie nicht in den Wäldern unterwegs waren. Niemals hätte Yvonne sich vorgestellt, dass sie noch einmal in ihrem Leben so viel Spaß haben würde. Sie lachte so viel und alberte mit diesem erstaunlichen Clown im Wolfspelz herum oder erzählte Freundin aus ihrem Leben. Sie redete, als wäre es ein Mensch, mit dem sie ihre Gedanken teilen würde, und Freundins regelrecht nachdenklicher und konzentrierter Blick schienen Yvonne als Reaktion nur natürlich.
Wenn die Frau ein wenig weinte – bei traurigen Episoden, die sie erzählte – leckte Freundin ihr über das Gesicht und es wurde irgendwie gut dabei. Wenn Yvonne kichernd von anderen Dingen sprach, solchen die vor der Krankheit und ihrem Ehedrama passiert waren, bellte der Wolf fröhlich und zeigte ihr sein typisches "Grinsen" mit heraushängender Zunge. Die Frau machte sich keine Gedanken darüber, sie nahm es einfach an und war glücklich dabei. Manchmal erschien ihr die Wölfin fast wie ein Mensch, ihr intelligenter Blick schien zu sprechen, aber oft benahm sich das Tier einfach auch wie ein großer verspielter Hund.
Und dann war der Tag da, an dem sie fahren musste. Freundin hatte, wie in den letzten Tagen, immer am Fußende des Bettes geschlafen, und an diesem Morgen verhielt sie sich sehr ungewöhnlich. Sie folgte Yvonne, wohin diese auch ging, und hörte nicht auf, sie anzustarren. Das vertraute Gefühl, das dabei in Yvonne hochkam, brach ihr fast das Herz, und als sie ihre Sachen im Auto verstaut und das Haus abgeschlossen hatte, redete sie mit Freundin. "Du musst einfach wieder nach Hause gehen, wo immer das auch ist. Aber ich komme wieder, das versprech ich dir."
Und unglaublicherweise gähnte die Wölfin, genau wie damals am Weiher. Dann legte sie den Kopf schief und zeigte ihren pfiffigsten Blick, drehte sich zum Waldrand und lief langsam los. Dann aber drehte sie, genau wie damals, noch einmal den Kopf und zwinkerte tatsächlich. Yvonne schloss die Augen und schüttelte den Kopf, aber als sie wieder hinsah, war Freundin fort.
Es wurde dunkel, als Yvonne die Autobahn erreichte, sie fuhr langsam, denn in ihrem Kopf ging es ziemlich wirr zu. Wie die Katze einer Maus, so jagte ihr Verstand einem bestimmten Gedanken nach, einer Wahrheit.
Und als der Scheinwerfer eines entgegenkommenden Wagens den kleinen Hasen mit gefärbtem Kunstfell beleuchtete, der an ihrem Innenspiegel hing, hatte sie es plötzlich. Yvonne nahm die nächste Ausfahrt – und als sie an den Rand der nächsten Ortschaft kam, hielt sie an. Sie starrte durch die Windschutzscheibe in die dunkle Nacht, aber sie sah etwas anderes, nämlich Freundin, die sie mit schiefgelegtem Kopf und eindringlichem Blick ansah, ihr zuzwinkerte.
Über dieses Bild schob sich ein anderes, ein Gesicht mit eben demselben Blick und ebenso hellbraunen Augen, die ins Gelbe spielten. Kurze und wuschelige braune Haare und starke weiße Zähne. Die beiden Bilder verschmolzen vor Yvonnes geistigem Auge, und nicht nur die Gesichter, sondern auch alles andere. Natürlich hatte Sabine sich nicht gemeldet, natürlich hatte niemand nach einem fortgelaufenen Wolf gefragt. Natürlich hatte Freundin am Weiher wirklich auf sie persönlich gewartet – und die freundliche, aber unaufdringliche Fürsorglichkeit war ihr natürlich bekannt vorgekommen, sie genoss sie jeden Tag im Atelier und im Büro.
Die Erkenntnis erschreckte Yvonne nicht, sondern sie war einfach die Antwort auf die Fragen, die sie sich gestellt hatte. Grinsend ließ sie den Motor wieder an, es war Zeit nach Hause zu fahren ... und zu ihrer Freundin.
© "Wolfstage: Eine Vollmondnacht im Wald". Fantasy-Erzählung und Abbildung: Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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