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Während sie nach dem Schlüssel suchte, fragte sie sich, wieso sie eigentlich hier war. Oder besser gesagt, wieso sie es endlich geschafft hatte, hier zu sein. Von diesem winzigen Dorf in Süddeutschland hatte sie niemals vorher etwas gehört ... erst als Sabine anbot, hier den Urlaub zu verbringen.
Das kleine Häuschen am Waldrand sei zwar sehr alt, verfüge aber sogar über ein Bad und eine angebaute Garage. Fließendes Wasser gäbe es auch, allerdings kein heißes. Das Stichwort "Kohlebadeofen" bereitete Yvonne einiges Kopfzerbrechen, aber schließlich war es Sommer und sie maß dieser Einzelheit keine große Bedeutung bei.
"Wir nutzen das Haus auch nur in der heißen Jahreszeit", hatte Sabine grinsend gemeint und ihr den Schlüssel ausgehändigt. Und so stand Yvonne nach mehr Stunden Fahrt als nötig – sie hatte sich natürlich mehr als einmal verfahren – endlich hier vor diesem kleinen Märchenknusperhaus.
Nachdem sie sich mühsam durchgefragt hatte bei neugierig dreinschauenden Einheimischen, deren Dialekt ihr manches Rätsel aufgab, hatte sie begeistert gelacht. Das von wildem Wein überwachsene kleine spitzgiebelige Haus wirkte wie aus einem Märchenbuch. Der kleine Pfad, der durch den unordentlichen Vorgarten führte, war mit zum Teil zerbrochenen Steinplatten belegt, und das Gartentürchen quietschte erwartungsgemäß. Es gab einen offenen Schuppen, der mit ordentlich aufgestapelten Holzscheiten gefüllt war, und eine malerische Handpumpe hinter dem Haus.
Als Yvonne endlich den Schlüssel aus ihrer Reisetasche gefischt hatte und die grüngestrichene Haustüre öffnete, hatte sie ein Gefühl von Abenteuerlust – etwas, das ihr eigentlich ziemlich fremd war und sie amüsierte. Dann stieß sie erst einmal einen Schmerzensschrei aus, denn im Inneren war es ziemlich dunkel und es gab eine hohe Schwelle, mit der ihr sandalenbekleideter Fuß heftig Bekanntschaft gemacht hatte.
"Die Fensterläden, du Dummchen", schoss es Yvonne durch den Kopf. Die ebenfalls grünen Holzläden waren selbstverständlich geschlossen und taten ihr Bestes, um das Sonnenlicht fernzuhalten. Also stellte sie ihre Tasche erst einmal ab und humpelte dann, einige unfeine Worte murmelnd, in den Raum hinein. Es war weniger finster, als es ihr auf den ersten Blick vorgekommen war, da sie ja aus dem hellen Sonnenlicht in das Haus getreten war. Außerdem fiel etwas Licht durch einige Lücken der Lamellen in den Läden.
Eigentlich hatte Yvonne stickige Luft erwartet, schließlich war lange Zeit niemand hier gewesen, aber es roch frisch mit einem leisen Hauch von Lavendel. Als die Läden offen waren und sie sich endlich richtig umsehen konnte, war sie immer noch begeistert. Im Erdgeschoss gab es eine Küche, die mit dem Nötigsten eingerichtet war, wozu neben einem geradezu antiken Schrank auch ein alter Holztisch und vier Stühle gehörten. Ein Elektroherd war vorhanden und ein richtiger alter Spülstein. Es gab auch eine winzige Kammer, die mit Regalen vollgestopft war, auf denen sich allerlei Nahrhaftes in Form von Konserven befand. Das hatte Sabine noch gesagt, dass sie sich nicht mit Einkäufen belasten müsste vorerst.
In dem kleinen quadratischen Flur gab es noch zwei Türen, von denen eine in ein Wohnzimmer führte, das mit zusammengewürfelten Möbeln eingerichtet war und unwiderstehlich gemütlich wirkte. Bunt schien hier die Devise zu sein, denn vom Lampenschirm bis zu den Decken gab es nichts unifarbenes. Da trafen sich indianische Muster mit viereckigem Flickerldesign und bodenständigen Karos. Aber obwohl Yvonne eigentlich eher ein "Ton-in-Ton-Typ" war, fand sie den Raum umwerfend wohnlich.
Die andere, etwas schmalere Tür führte in das kleine Bad. Senffarbene Kacheln, eine weiße Klauenwanne und ein ebenso weißer Kohlebadeofen, ein Waschbecken und eine Toilette mit Holzbrille lehnten jeden Anspruch auf Modernität ab. Nachdem Yvonne die einwandfrei funktionierende Spülung getestet hatte, war sie rundum zufrieden. Eine abenteuerlich steile Holztreppe führte zum Obergeschoss, wo zwei kleine Schlafzimmer lagen. Je ein Schrank und ein Doppelbett stellten die Einrichtung dar, die sauberen Matratzen waren abgedeckt und die Decken und Kissen befanden sich in Hüllen.
"Keine Herausforderungen", dachte Yvonne, und kurze Zeit später war der Kofferraum leer, ein Schrank ordentlich eingeräumt und ein Bett bezogen. Dann folgte ein Imbiss, eine "Katzenwäsche" mit recht kaltem Wasser, und als alle Birnen richtig eingedreht waren, gab es warmes Licht. An diesem ersten Abend kam Yvonne nicht mehr zum Nachdenken, die lange Fahrt forderte ihren Tribut, und so lag sie zum ersten Mal seit langer Zeit kurz nach Sonnenuntergang im Bett und schlief tatsächlich fast sofort ein.
Yvonne erwachte etwas verwirrt, denn die Sonne schien direkt auf das Bett und erfüllte überhaupt das ganze Schlafzimmer. "Natürlich, ich hätte die Läden zumachen sollen", dachte sie schläfrig – aber dann fuhr sie auf. Sie tastete nach ihrem Handy, das sie auch auf dem Boden direkt neben dem Bett in die Finger bekam und sank gleich darauf beruhigt in die Kissen zurück. Erst acht Uhr, aber so wunderbar sonnig. Obwohl sie ihre Kindheit in ländlicher Gegend verbracht hatte, wenn auch nicht in einem so kleinen Ort wie diesem hier, waren die Geräusche regelrecht aufregend neu. In der Stadt hörte man zwar die Vögel frühmorgens auch, nur gehörte das zu den anderen Geräuschen der Stadtmusik.
Hier draußen klang es völlig anders. Und als sie das Fenster geöffnet hatte, hörte sie noch andere Nuancen. Insekten summten, Wasser plätscherte, und irgendwo fuhr so etwas wie ein Traktor vorbei. Dann riss sie eine ziemlich laute Fahrradklingel aus ihren Betrachtungen. Die gehörte zu einem Hollandrad mit vollgepacktem Lenkerkorb, das an den hölzernen Zaun gelehnt war und wiederum zu einer rundlichen, älteren Frau, die vor dem Gartentürchen stand und freundlich winkte.
"Will scheinbar tatsächlich zu mir", murmelte Yvonne nicht eben erfreut, fuhr aber in Jeans und T-Shirt und machte sich auf den Weg nach unten. Die Frau entpuppte sich als diejenige, die im Auftrag der Eigentümer – also Sabines Familie – "hier immer mal nach dem Rechten" sah, wie sie sagte. Das erklärte auch, wieso das Haus frisch gelüftet war und es auch kaum Staub gab.
Frau Schicker, so stellte sich die redselige Großmutter vor, begrüßte Yvonne freundlich und sicherte jede erdenkliche Hilfe zu. Ganz nebenbei erkundigte sich die nette Radlerin auf das Genaueste nach den persönlichen Umständen Yvonnes und brachte das Kunststück fertig, das Wichtigste aus ihrem eigenen Leben zu erzählen. Das schien im Wesentlichen aus ihren Enkelkindern, ihrem kleinen Haus, ihrem invaliden Ehemann und aus dem Fernseher zu bestehen.
Yvonne schwirrte der Kopf von der geballten Informationsflut, aber sie erkannte, dass Frau Schicker sie nicht aus Bosheit ausfragen, sondern dass sie einfach nur wissen wollte, wer da nun seinen Urlaub verbrachte. Sie hatte gewusst, dass es einen Gast geben würde, eine Frau, das hatte man ihr am Telefon gesagt, damit sie wusste, dass es seine Richtigkeit hatte.
Als sie endlich weiterradelte, wusste sie, dass Yvonne krank gewesen war, und dass sie eine Scheidung hinter sich hatte, was Oma Schicker mitfühlend und befriedigt zur Kenntnis genommen hatte, nicht ohne die Trennungstragödie ihrer zweitältesten Tochter breitzuwalzen. Aber sie hatte auch die genaue Funktion des Badeofens erklärt und die metallene Aschentonne hinter dem Haus gezeigt.
Die Angaben waren so präzise, dass Yvonne durchaus glaubte, heute Vormittag ein heißes Bad nehmen zu können. Außerdem erfuhr Yvonne, dass es zwei Wirtshäuser im Dorf gab, mehrere Vereine und keinen Laden. Wer etwas brauchte, fuhr per Bus oder Auto in den nächst größeren Ort. Aber da scheinbar alle Bewohner fleißig in ihren Gärten werkelten, waren wohl alle Kellerregale voll mit Eingemachtem.
"Wie bei einer Zeitreise", dachte sich Yvonne. Doch als sie später ihren ersten Spaziergang machte, zeigte sich, dass das Dörfchen durchaus in die Gegenwart gehörte. Es gab jede Menge Satellitenschüsseln, und aus vielen geöffneten Fenstern drangen die typischen Geräusche, die Fernsehen so mit sich bringt.
Plakate wiesen auf Veranstaltungen hin wie Schützenfeste oder "Ladys Night" in irgendeiner Diskothek in der Kreisstadt. Allerdings waren alle Anschläge auf dem neuesten Stand, das fiel direkt ins Auge. Alles, was da angepriesen wurde, war durchaus noch aktuell. Eine Gruppe von Jugendlichen lungerte auf einigen wenigen Parkbänken am zentralen Platz des Ortes herum. Ihr Benehmen und ihre Kleidung unterschieden sich in nichts von den Cliquen in den Metropolen, sie wirkten absolut desinteressiert und waren mit ihren eigenen Ritualen befasst. Sie schauten Yvonne nicht einmal hinterher, als sie vorbeiging.
Eine kleine Kirche verschlief den Montagmorgen, ein kleines Hausteingebäude mit Turm, das tatsächlich von einem kleinen Friedhof umgeben war. Ihre Hand zuckte zur Hüfte, dahin wo sonst die Kameratasche am Gürtel der Jeans hing – aber sie hielt auf halbem Weg inne, denn es würde keine Aufnahmen geben. Yvonne hatte sich geschworen, kein einziges Foto zu machen während ihres Urlaubs. Die letzte große Fotoserie hatte sie abgeliefert und zwar mit sehr großem Erfolg, aber sie hatte hart daran gearbeitet. Vermutlich zu hart, denn sie wollte eigentlich keine Kamera mehr anfassen vorerst. Sie hatte Glück gehabt, die Auftragslage war sehr gut gewesen, sie hatte mehr Arbeit angenommen als sie eigentlich bewältigen konnte. Das hatte ihr geholfen nach der Scheidung – es hatte verhindert, dass sie die Tage und Nächte zergrübelte wie sie es vorher getan hatte.
Die letzten drei oder vier Jahre waren eigentlich nichts anderes gewesen als eine lange und schmerzhafte Trennung – ein gewaltsames Lösen in Zeitlupe. Wenn sie daran dachte, hatte sie immer dieses Bild vor Augen, ein Pflaster, das von der wunden Haut gerissen wurde in absoluter Langsamkeit. So dass der Schmerz sich dehnte wie der Klebstoff auf der Haut. Dann dachte sie an Urlaub, einfach so ein Gedanke war es gewesen. Sie wollte nicht mit sich allein sein, nicht in dieser Wohnung. Sie erwähnte es Sabine gegenüber, und die bot sofort dieses Häuschen an. Und dann packte Yvonne auf einmal und programmierte den Navigator, und dann war sie hier angekommen. Sie hatte es nicht geplant, und das war bemerkenswert.
"Du bist ein Kontrollfreak", hatte Christoph oft gesagt. In den letzten Monaten hatte er es gebrüllt. "Du würdest am liebsten den Fliegen ihre Flugbahn vorschreiben, wenn du könntest." Yvonne hatte sich eher als pragmatisch gesehen, aber ihr Mann hatte es als Nüchternheit bezeichnet. Am Anfang hatte er es gemocht. "Du bist für mich Wirrkopf der Fels in der Brandung", hatte er oft gemeint. Er hatte nicht verstanden, wieso es eskalierte. Aber sie verstand es ja selber nicht – es wurde eben immer mehr "pragmatisch".
Am Anfang war es so, dass sie sich nicht wohl fühlte, wenn etwas nicht überschaubar war, später machte es ihr Angst. Yvonne bemerkte nicht, wie sehr ihr Verhalten Christoph verstörte. "Wie kann ein Mensch mit einem kreativen Beruf dermaßen pingelig sein?", fragte er oft. Er fing an aufzubegehren, wenn sie jedes Mal, wenn er im Bad gewesen war, die Handtücher glatt zog und gerade hinhängte. Sie hatte die Wäsche streng nach Farben im Schrank gestapelt und führte Buch über alles und jedes. Sie hatte einen Plan aufgestellt, von dem sie nie abwich – das bedeutete, dass die anfallenden Arbeiten genau zu dem festgelegten Zeitpunkt gemacht werden mussten – bis hin zum Abstauben.
Gelang das nicht, bekam sie Magenschmerzen und übergab sich. Und irgendwann konnte sie nicht mehr schlafen, wenn die Pantoffeln nicht gerade nebeneinander genau auf der Bettumrandung standen. Manchmal war sie nachts noch einmal aufgestanden, um die Zimmer nach Unordentlichkeiten abzusuchen. Als sie endlich nachgab und eine Therapie begann, war Christoph nicht wirklich erleichtert. Er hatte in den Auseinandersetzungen seine Kraft verbraucht, und wahrscheinlich seine Liebe. Als Yvonne begann, Fortschritte zu machen und sich mit ihrem Problem wirklich auseinandersetzte, war er kaum noch daheim. Als sie endlich verstand, dass sie sich die Liebe ihrer Mutter zurückerobern wollte, die ihr diese Weise vorgelebt hatte, konfrontierte er sie mit seiner Freundin.
Dann nahm alles seinen Lauf – Trennung, Scheidung, Arbeit. Yvonne verfiel nicht mehr in ihre Verhaltensweisen, die eine Therapie nötig gemacht hatten – sie wurde allerdings um einiges beherrschter Menschen gegenüber. Und hielt weiter Ordnung, wenngleich weitaus gemäßigter. Und sie hatte Sabine eingestellt, die ihr einen großen Teil der Büroarbeit abnahm. Für Yvonne was das etwas völlig Neues, sie hatte nie delegieren gekonnt. Aber sie gewöhnte sich schnell an die Vorteile, denn diese gewonnene Zeit kam ihrer Arbeit sehr zugute.
© "Wolfstage: Das kleine Häuschen am Waldrand". Fantasy-Erzählung und Abbildung: Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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