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Die fast zwanzig Jahre Jüngere war so völlig verschieden von Yvonne, dass sie von einem anderen Planeten stammen könnte. Ihr Arbeitsplatz sah eher wie ein Flohmarktstand aus, denn sie verteilte großzügig ihre Habe plus mehreren Kaffeebechern auf jedem noch so kleinen freien Platz. Sie war geradezu unglaublich unordentlich, aber brauchte trotzdem nie mehr als einen Augenblick, um etwas zu finden. Sabines Chaos war scheinbar geordnet, es schadete ihr in keinster Weise. Für Yvonne war das sehr schwierig am Anfang gewesen, aber ihr Therapeut brachte es auf den Punkt. "Sie sagen, dass die Frau sehr effizient arbeitet, dann nehmen Sie ihre Eigenarten einfach hin. Es ist nicht Ihre Unordnung."
Und tatsächlich funktionierte es. Wenn es für das Phänomen Sabine einen Titel gegeben hätte, dann hätte er wohl "Großzügigkeit" gelautet. Denn diese erstaunliche Person kümmerte sich einfach um alles, von dem sie annahm, dass es das wert war, und das war eigentlich sehr viel. Bei Plaudereien hatte Yvonne den Eindruck gewonnen, dass Sabine eine sehr große Familie hatte, für die sie durchs Feuer ging. Die so viel jüngere Frau hatte eine umwerfend warmherzige Ausstrahlung und war immer bereit, ihre Hilfe anzubieten. Yvonne war nicht in der Lage, das an sich heranzulassen. Das belastete sie zu ihrem Erstaunen sogar, denn sie spürte die hellbraunen Augen Sabines oft auf sich ruhen.
Es lag nicht an mangelndem Vertrauen, eher an der jahrelangen Gewohnheit, das Leben als Blaupause anzusehen. Aber trotzdem hatte sie angefangen, die vielen kleinen Aufmerksamkeiten zu genießen, die es mit sich brachte, Sabine als Mitarbeiterin zu haben. Die schien nämlich mit irgendeinem verborgenen Sinn zu spüren, ob Yvonne eine Arbeit selber übernehmen wollte oder nicht. Außerdem wurde oft genau dann ein Becher Kaffee auf den Schreibtisch gestellt oder in das Atelier gebracht, wenn Yvonne gerade danach lechzte.
Wenn Yvonne sich anfangs noch überrascht bedankt hatte, legte die junge Frau mit dem braunen Strubbelkopf nur grinsend den Kopf schief und zuckte die Achseln. Diese erstaunliche Person hatte einen hervorragenden Instinkt, was Menschen betraf, manche Besucher drängte sie Yvonne geradezu auf, selbst wenn diese beschäftigt war. Andere wurden gleich abgefertigt und drangen erst gar nicht vor – es hatte sich gezeigt, dass es jedes Mal einen guten Grund dafür gab, wie es sich mehrfach im Nachhinein herausstellte.
"Ich hatte so eine Ahnung", sagte Sabine dann meist treuherzig. Das Angebot mit dem Häuschen kam natürlich auch zum richtigen Zeitpunkt – nach mit Arbeit überfüllten Monaten war es einfach an der Zeit, die Wohnung und das Atelier einmal zu verlassen. Sabine schien genau zu wissen, was Yvonne jetzt brauchte. "Ruhe und Einsamkeit mit Anschlussmöglichkeiten für Notfälle", wie sie es nannte. Dann prustete sie so unverhofft los, wie es eben ihre Art war, an die sich Yvonne letztendlich gewöhnt hatte. Eigentlich waren ihr Leute mit einem dermaßen raumfüllenden Lachen eher ein Gräuel, aber bei Sabine klang es eben echt und irgendwie lebendig. Und ergeben fing Yvonne an zu packen.
Das waren die Gründe, die sie in das kleine Dorf geführt hatten, und sie bereute es durchaus nicht.
Oma Schicker hatte sich als große Hilfe erwiesen, denn tatsächlich zeigte sich dieser Badeofen kooperativ. Es musste etwas nach zwölf Uhr mittags sein, als eine vom Baden entspannte Yvonne mit einem kleinen Rucksack ausgerüstet das Hexenhaus verließ, um die herrliche Gegend zu erkunden.
"High Noon, fremde Frau aus der Stadt", dachte sie mit einem Grinsen und schlug einen Pfad ein, von dem Frau Schicker gesagt hatte, dass er zu einem Rundwanderweg führte ... und von da in ein Zauberreich. Die Wälder in dieser Gegend waren ja unwiderstehlich schön, und Yvonne verfluchte sich dafür, dass sie keinerlei fotografische Ausrüstung mitgenommen hatte. Wenn sie es recht überlegte, hatte Sabine das kurzerhand so bestimmt.
"Keine Kamera", hatte sie lachend gemeint. "Nichts, was mit Arbeit zu tun hat." Das hatte auch logisch geklungen und Yvonne hatte auch überhaupt keine Lust auf "Arbeit" gehabt. Aber da hatte sie auch nicht gewusst, was hier auf sie wartete. Während sie fasziniert über den wunderbar federnden Waldboden ging, stellte ihr Kopf Fotoserien zusammen, die nur dieses herrlich grüngoldene Licht zum Thema hatten, und die Bäume.
Ihre Augen fingen an, Details wahrzunehmen wie Vögel, Pilze, interessante Pflanzen und Felsbrocken. Ihre "eingebaute Kamera", wie Christoph das immer genannt hatte, surrte unentwegt. Yvonne hatte einen eher gemächlichen Gang eingelegt, denn es gab so unglaublich viel zu sehen, deshalb drang ihr ein leises Geräusch, das sie vermutlich die ganze Zeit über unterschwellig wahrgenommen hatte, plötzlich ins Bewusstsein. Es hörte sich an, als liefe jemand in einigem Abstand neben ihr her. Sehr leise, aber doch begleitend, so als wollte etwas unentdeckt bleiben. Nicht "jemand", denn das war kein Geräusch wie ein gehender oder sogar schleichender Mensch es machte.
Während sie ruhig atmete, versuchte Yvonne sich zu erinnern, was für Bedrohungen es in deutschen Wäldern geben könnte und kam eigentlich zu keinem Schluss. Man hörte hier und da von wütenden Wildschweinen, aber die machten wahrscheinlich weitaus größeren Lärm. Yvonne hatte nicht wirklich Angst – sie sagte sich, dass es wohl jede Menge ungefährliches Getier in solch einem Forst geben würde und dachte dabei vage an Rehe oder so etwas Ähnliches. Aber ... vielleicht bildete sie sich das überhaupt nur ein, denn es war eher ein Spüren als ein Hören gewesen.
Ein kleiner See tauchte auf, oder eher ein Weiher. In der Sommerwärme glänzte das Wasser geradezu silbern, wenngleich das meiste der Oberfläche von Entengrütze bedeckt war. Enten waren zwar nicht zu sehen, aber Libellen und anderes flirrendes Getier, das in der Sonne funkelte. Yvonne murmelte einige Worte, die man mit viel gutem Willen als Äußerungen des Bedauerns, was die fehlende Kamera betraf, deuten konnte, und ging langsam an das Ufer, wo sie sich auf einen kleinen Felsbrocken setzte. Und dann sah sie es, oder besser gesagt ... ihn. Nicht viel mehr als etwa zehn Meter von ihr entfernt stand ein ziemlich großer Hund regungslos in der Nachmittagssonne und sah zu ihr herüber.
Während sich ihre Nackenhaare aufstellten, schaute sie um sich, um vielleicht den dazugehörigen Menschen zu entdecken, aber da war niemand. Irgendwann einmal gelesene Meldungen von streunenden Hunden gingen ihr durch den Kopf. Es hatte da wohl einige Zusammentreffen gegeben, die nicht so gut für die beteiligten Menschen ausgegangen waren, und Yvonne fühlte sich nicht gerade beruhigt. Der Gedanke an eine Flucht kam ihr nur für einen winzigen Moment, denn es war nicht sehr realistisch zu glauben, dass man einem großen Hund davonlaufen könnte. Außerdem würde es den Beutetrieb des Tieres wohl erst aufkommen lassen.
Yvonnes Augen suchten den Boden nach einem Stecken oder vielleicht einem Stein ab, stießen aber auf nichts, das man vielleicht als Waffe hätte benutzen können. Als sie wieder zu dem Hund hinsah, war er praktisch unbemerkt näher gekommen, hatte sich aber auf die Hinterläufe gesetzt. Während Yvonne nicht hingesehen hatte, hatte das Tier die Distanz um die Hälfte verringert. Allerdings, so fand die Frau, sah der Hund eigentlich nicht bedrohlich aus. Er war noch etwas größer, als sie ihn geschätzt hatte, verfügte über ziemlich große spitze Ohren, die er aufgestellt trug. Yvonne stufte den Hund als so etwas wie einen Husky oder eine ähnliche Rasse ein, wenngleich sein graubraunes Fell eher unscheinbar aussah.
Ihre Betrachtungen wurden abrupt beendet durch das Geräusch zusammenklappender Kiefer, das Viech hatte tatsächlich kräftig gegähnt. Dann legte es den Kopf schief und sah Yvonne auf eine Weise an, die sie nur als pfiffig bezeichnen konnte. Sie lachte auf, denn die absurde Situation hatte durchaus etwas Komisches, und ihre Angst war sowieso verflogen. Das Geräusch wurde von ihrem Gegenüber mit einem kurzen Schwanzwedeln quittiert, was sehr freundlich und auch beruhigend wirkte. Dann plötzlich erhob sich der Hund und begann auf den Waldrand zuzulaufen, und zwar in mutwilligen Sprüngen. Bevor er zwischen den Bäumen verschwand, drehte sich der Hund noch einmal um und ließ ein sonderbar heiseres Bellen hören. Dann war er nicht mehr zu sehen.
Auf dem Heimweg gingen Yvonne viele Gedanken durch den Kopf, und alle drehten sich um diese Begegnung. Dieses Gähnen und der pfiffige Blick erinnerten sie an etwas, das sehr lange her war. "Tarzan", dachte sie und blieb stehen ... wie hatte sie den vergessen können. Er war ein großer Mischlingsrüde gewesen und "freundlich bis zur Dämlichkeit", wie ihr Vater öfter gesagt hatte. Tarzan war gnadenlos verfressen und tollpatschig. Warf man ihm einen Ball zu, lief er zur Hochform auf und zerdepperte alles Zerbrechliche in seinem direkten Umfeld. Ihre pedantische Mutter hatte das Tier gehasst, aber Yvonne sah in ihm ihren besten Freund. Vater war hart geblieben, denn seiner Meinung nach sollten Kinder und Tiere miteinander aufwachsen.
Tarzan durfte zwar nie ins Haus, aber er blieb da – mochte Mutti auch noch so nörgeln. Das tat sie sowieso immer, es gab eigentlich nichts, dass ihr gefiel. Ja, Tarzan war der Freund ihrer Kindheit gewesen, bis er starb. An Altersschwäche übrigens, er wurde über zehn Jahre alt und litt nicht. Er war einige Zeit kurzatmig gewesen, und eines Morgens wachte er nicht mehr auf. Für Yvonne war es wirklich schlimm gewesen, aber ihr Vater tröstete sie. Er wollte sogar einen anderen Hund für sie besorgen, aber das lehnte Yvonne ab. Sie wollte keinen anderen Hund, sie wollte Tarzan.
Mutter war damals so taktvoll gewesen, sich ihre Erleichterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen, aber trotzdem wurde die ohnehin sehr kühle Beziehung zu ihr nicht gerade besser. Das alles hatte Yvonne vergessen gehabt, es war wie eine Reise in die Vergangenheit. Irgendwo regte sich der Gedanke, dass es fast ausgesehen hatte, als hätte der Hund tatsächlich auf sie gewartet, dort am Wasser – aber sie tat den Gedanken mit einem ungeduldigen Kopfschütteln ab.
Der nächste Ferientag zeigte sich genau so unwiderstehlich sonnig wie der vorherige, und Yvonne war nach einem ausgiebigen und äußerst genussvollen Schlaf recht bald wieder unterwegs. Eigentlich wollte sie die entgegengesetzte Richtung einschlagen, aber ihre Füße liefen wie von selber zu diesem kleinen Gewässer. Sie hinterfragte das nicht sehr intensiv – auch nicht, wieso sie eine der kleinen getrockneten Salamis eingesteckt hatte. Diese Dinger mochte sie überhaupt nicht.
Der Hund erwartete sie schon auf dem halben Weg zum Weiher, und so, als hätte sie es erwartet, war sie nicht überrascht. Es schien ihr einfach natürlich. Sie begrüßte das schwanzwedelnde Tier mit einem "Na Du?", was mit erneutem Wedeln beantwortet wurde. Am Weiher legte sich ihr Begleiter direkt neben sie und, das hätte Yvonne schwören können, starrte auf den Rucksack. Die Salami verschwand mit sehr großer Geschwindigkeit, und Yvonne hielt sich an die Brote.
Von denen bekam das Tier allerdings auch einen großen Teil ab, denn es wusste hartgekochte Eier und Käse durchaus zu schätzen. Obwohl Yvonne sich selber sagte "Pure Einbildung, dir schlägt die Einsamkeit hier auf das Gehirn", war es, als wäre der Hund ein alter Bekannter. Irgendetwas an diesem Blick kam ihr vertraut vor, angenehm vertraut. Und die pragmatische Yvonne tollte mit ihrem Freund am Seeufer herum, warf Stöcke und ließ sich lachend auf ein Wettrennen ein. Alle Angst, die sie jemals gehabt hatte, war völlig verflogen, sie fühlte sich wohl wie lange nicht mehr.
Der Hund forderte nichts, er wollte keine Erklärungen oder sonst etwas – er war einfach da und ließ sich auf sie ein. Irgendwann ließ sich die Frau in das Gras am Waldrand sinken, müde aber fröhlich, und der Hund tat es ihr nach. Wohlig wälzte sich das Tier auf den Rücken, und Yvonne, die das träge beobachtet hatte, setzte sich plötzlich auf. Dann lachte sie, lachte immer weiter, bis ihr die Tränen kamen und die Luft fast wegblieb. "Oh du Heimlichtuerin", japste sie, "das hättest du aber früher sagen können." Und dann lachte sie weiter, wie sie nicht mehr gelacht hatte seit Jahren.
Die Hündin, denn das war es natürlich, legte bei diesen Ausbrüchen nur den Kopf schief und sah Yvonne mit einem Ausdruck im Gesicht an, der bei einem Menschen eindeutig ein Grinsen gewesen wäre. Jedenfalls sah Yvonne das so, und dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, legte sie ihre Hand auf den Kopf des Tieres und begann es sacht zu kraulen. Der sonnenwarme Pelz fühlte sich lebendig und schön an, das Haar war weich und voll von Tannennadeln, Grassamen und auch einigen Kletten. Dann machten beide ein Nickerchen in der warmen Nachmittagssonne.
© "Wolfstage: Fremde Frau aus der Stadt". Fantasy-Erzählung und Abbildung: Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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