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Der Schlag warf das Mädchen um, und einen Moment lang war ihr schwarz vor Augen. Sie sah sonderbare Blitze, die durch die Dunkelheit zuckten, hörte nur noch das schrille Fluchen des Stallmeisters und hob schwach die Arme, um sich zu schützen. Es war ein Reflex, nicht mehr.
Sie wusste, dass mehr Schläge kommen würden, und so ließ sie los, um tiefer zu fallen in die Schwärze, die sie umgab, um nichts mehr zu fühlen. Doch da klatschte ein Schwall stinkenden Wassers in ihr Gesicht, und sie öffnete die Augen, krampfhaft Atem holend.
Der Stallmeister war verschwunden, aber der grinsende Knecht stand breitbeinig über ihr, den leeren Wassereimer noch in den Händen. Dann wandte er sich mit einem unflätigen Lachen ab. "Die Raufen, Srieta" zischte er ihr dann noch über die Schulter zu, als er den Gang entlang zum Ausgang schlenderte.
Mühsam stemmte sich das Mädchen auf die Knie, Übelkeit stieg in ihr hoch und sie versuchte, so tief wie möglich Atem zu holen. Die Seite ihres Kopfes, wo der Schlag sie getroffen hatte, fühlte sich taub an, und als sie die Hand hob, um ihre Wange zu berühren, fühlte sie nichts. Nur die Haut unter ihren Fingern fühlte sich ziemlich geschwollen an. Das war nichts Neues, aber so schwindlig war ihr noch nie gewesen nach den Prügeln.
Sie hatte nichts getan, um die Wut des Stallmeisters herauszufordern, aber das war auch nicht notwendig. Er mochte sich anderswo geärgert haben oder noch einen Brummschädel vom gestrigen Abend haben, vielleicht hatte der Herr auch den Stall besucht und seine Unzufriedenheit ausgedrückt. Was immer auch den fetten, stiernackigen Kerl störte – er gab seine Wut sofort weiter. Die Pferde waren sicher vor ihm, denn die Herrschaft hätte Misshandlungsspuren sehr übel vermerkt. Bei den Leibeigenen und Hörigen suchte keiner nach blauen Flecken und Knochenbrüchen.
Der etwas einfältige Knecht, der ihr das Wasser übergegossen hatte, war fast ebenso oft der Sündenbock wie Srieta selber. Sie wusste sehr wohl, dass der Junge deshalb so schadenfroh und hinterhältig war. Sie nahm es ihm nicht wirklich übel, aber den Stallmeister hasste sie aus tiefster Seele. "Srieta" – das war nicht ihr Name, sondern eine Beschimpfung. Das Wort bezeichnete etwas ziemlich Dreckiges – es war das Wort für das Frauenfleisch, dessen sich jeder bedienen konnte, der Lust dazu hatte.
Die Herren hatten kaum einen Blick für die zerlumpten Mädchen und Frauen, die tagtäglich die schweren Arbeiten auf dem großen Hof der Burg verrichteten. Die holten sich die hübschen Töchter der Bauern und Gutsbesitzer, um den Damen aufzuwarten, und zur Bedienung bei den großen Festen. Die Stellen waren begehrt, denn wenn einer der Junker ein Auge auf eine frische Schöne geworfen hatte, ging sie nicht ohne Geschenke nach Hause zurück und konnte sich gut verheiraten. Aber diejenigen, die man Srieta nannte, die Kinder der Allerniedrigsten, die wurden von den "kleinen Herren" in die dunklen Ecken gezerrt. Kellermeister, Bäcker, bessere Diener und Gardisten nahmen sich, was sie wollten. Und sie fragten nicht immer nach dem Alter und auch nicht nach dem Geschlecht.
Ihr war das noch nicht passiert, denn obwohl sie so um die fünfzehn Sommer gesehen hatte, war sie sehr dünn und sehr unansehnlich. Nicht dass das irgendjemanden abgehalten hätte, der volltrunken nach einem Gelage ein Opfer suchte – aber der Schmutz und der Gestank schon. Und niemals verließ sie bei Sonnenaufgang ihre Schlafstelle aus altem Stroh und Lumpen, ohne sich mit mehreren Handvoll Ruß und einigen übel riechenden Sachen "zurechtzumachen".
Das Mädchen lebte in einer Hütte, wenn man den Verschlag aus faulenden Brettern so nennen konnte, mit der alten Kraisa. Die Alte hatte ihr zu den Maßnahmen geraten, um sich zu schützen, und bis jetzt hatte Jerssa damit auch Erfolg gehabt. Nur leider hielt es keine Schläge ab. Kraisa war so etwas wie eine Heilerin, und wenn sie auch halb blind war, so waren ihre Salben und Tränke für Mensch und Tier hochbegehrt auf der Burg. Ob ein Kind nun einen bösen Husten hatte oder ein Pferd kranke Hufe – Kraisa wusste meist ein Mittel. Aber da sie kaum gehen konnte, brauchte sie jemanden, der nach ihren Beschreibungen die Kräuter holte, die sie benötigte.
Die Kräutersuche bedeutete eine gewisse Freiheit für Jerssa, die nur im Stall arbeiten musste, wenn die Heilerin keine Aufträge für sie hatte. Sie hatte einen besonderen Status, die Alte ... sie wurde niemals geschlagen. Und sogar die Hebamme der Fürstenfamilie war schon gekommen, um sich Hilfe zu holen. Aber das war auch alles, nur das Mädchen hatte sie sich ausbedingen können. Denn niemand konnte sich so gut merken, was ihr aufgetragen wurde, und kannte sich so gut aus in den Wäldern und Lichtungen um die Feste. Und von Kraisa wusste sie auch, wie sie in Wirklichkeit hieß. Denn die Alte Kräuterkundige hatte ihre Eltern gekannt, die vor vielen Jahren als Gefangene in die Elendshütten der Hörigen gekommen waren. Sie stammten aus dem Land jenseits der Berge, wo es Krieg gegeben hatte mit den Fürsten dieses Reiches. Sie kannten die Sprache nicht, aber je mehr Peitschennarben sie auf dem Rücken trugen, umso besser verstanden sie die Befehle. Die Frau war schwanger gewesen, als man sie herbrachte, und sie gebar ihr Kind in der Hütte Kraisas. Und bevor sie starb, nannte sie noch den Namen, den das Neugeborene haben sollte: Jerssa. In ihrer Sprache hieß das "Freude".
Der Vater überlebte nicht viel länger, er begleitete eine Jagd als Treiber und kehrte nicht zurück. Ihren Namen behielt das Mädchen für sich, wie etwas Kostbares – das Einzige, das ihr allein gehörte. Die zerlumpten Arbeitstiere brauchten keine Namen, man nannte sie "he du", Tölpel oder eben Srieta. Kraisa war die einzige Person, die Jerssa mit Namen kannte. Und sogar bei der Heilerin gab es kaum jemanden, der wusste, wie sie hieß. Die Herrschaft nannte sie "Alte".
Als das Mädchen mühsam die Raufen gefüllt hatte – wobei sie sich immer wieder irgendwo abstützen musste, weil sie schwankte – kroch sie in die winzige Hütte. Kraisa hatte schon gehört, was geschehen war und einen Sud vorbereitet. Niemand fragte danach, wenn ständig etwas auf dem Feuer köchelte – schließlich konnte es einem ja selber zugutekommen. Unter mitleidigem Murmeln machte die Kräuterfrau dem Mädchen einen Umschlag und flößte ihr dann etwas ziemlich Bitteres ein. "Du musst fort, Kind, sonst wird er dich noch totschlagen", nuschelte sie. "Das hier war nahe daran, es hätte dir den Schädel brechen können."
Jerssa fühlte sich etwas besser, die Kopfschmerzen hatten nachgelassen und die taube Kopfseite prickelte etwas, weil das Gefühl zurückkehrte. "Wohin könnte ich gehen? Man würde mich suchen." Da lachte die Alte auf und meinte: "Wer sucht ein Lumpenkind, wenn so viele hier herumlaufen, dass man sie nicht zählen kann. Wer fort ist, ist nicht mehr da. Und die alte Kraisa kann niemanden suchen gehen. Sie weiß nicht, wo welches Mädchen im Wald in eine Schlucht gestürzt ist beim Kräutersuchen."
Die trüben Augen Kraisas verengten sich zu Schlitzen, als sie zahnlos lachte, und Jerssa richtete sich auf. "Aber wer wird dir helfen, wenn ich fort bin?" Kraisa wurde ernst und flüsterte: "Ich gehe auch bald fort, sehr bald werde ich gehen. Ich habe es gesehen in meinen Träumen, das und mehr. Deine Zeit bei mir ist vorbei."
Das Mädchen wusste sofort, was die Alte meinte, und obwohl ihr deren Worte Kummer machten, fühlte sie doch etwas wie Hoffnung aufsteigen. Doch dann stiegen ihr Tränen in die Augen, und sie nahm die knotige Hand der alten Frau und legte sie sich auf die Schulter, gerade auf die Stelle, wo die wulstige Brandnarbe war, die sie als Eigentum ihres Herrn auswies. Dieses Zeichen fesselte zuverlässiger als Ketten aus Eisen, denn ein so Gezeichneter konnte nirgends als freier Mensch leben.
Aber Kraisa streichelte die Schulter mit zittrigen Händen und begann von ihrer Zeit als Heilerin zu erzählen, von früheren Zeiten, als es hier noch keine hochfahrenden Herren gab und die Menschen das Land noch achteten und nicht nur nahmen, was sie konnten.
Die Vornehmen hatten nicht nur die Burg gebaut, sondern auch neue Altäre. Sie opferten Räucherwerk und Stahl, ihre Götter waren blutrünstig und strebten nach immer neuen Kriegen. Sie kannten die Kräfte nicht, die vor langer Zeit hier gewirkt und das Land beschützt hatten. Noch immer gab es verborgene Stätten der Kraft, wenngleich die Menschen sie vergessen haben mochten. Und leise sagte die Alte einen Namen und beschrieb einen Ort, dann löschte sie das Feuer und beide – Mädchen und Greisin – schliefen ein.
Noch vor Morgengrauen verließ Jerssa den Hof. Ihr Sackleinenbeutel für die Kräuter baumelte von ihrer Schulter – und das war Ausweis genug für die Torwachen. Aber diesmal schlug sie einen anderen Weg ein als sonst. Sie umging die Feldraine und Wiesen, und strebte eilig den Wäldern zu, die sich am Fuße der Berge ausbreiteten. Vereinzelte Wachtürme schauten über das Land, aber sehen würde man sie nicht. Nicht unter den Bäumen und nicht zu dieser Stunde. Kraisa hatte ihr den Weg sehr gut beschrieben, und so verlor das Mädchen keine Zeit. Der Weg stieg stetig an, wurde schmaler und schließlich zu einem kaum erkennbaren Pfad, der sich unter uralten Bäumen dahinschlängelte. Aber als die Sonne den Zenit erreichte, stand Jerssa an dem Ort, den ihr die Heilerin beschrieben hatte.
Unverhofft war eine Lichtung aufgetaucht, in deren Mitte ein kleiner See war, gespeist von einem Gebirgsbach. Am Ufer stand ein schmaler Fels, etwa so hoch wie zwei Männer und von Ranken überwuchert. Jerssa schob sachte die Ranken zur Seite und legte ein flaches Steinbecken am Fuß des Felsens frei. Auf der Vorderseite des Steines befanden sich eingravierte Zeichen, sonderbar und geheimnisvoll. Das Mädchen schöpfte mit den Händen Wasser aus dem Weiher in die Steinschale, dann fuhr sie mit feuchten Fingern die Runen nach und murmelte die Worte, die Kraisa ihr viele Male vorgesagt hatte:
Jerssa konzentrierte sich völlig auf die Worte, die sie immer und immer wieder sprach. Sie verstand nicht deren Bedeutung, aber Kraisa hatte gesagt, dass "Jerana" die Beschützerin der Wälder gewesen war. Die Mädchen und Frauen des Volkes hatten sich immer an sie um Schutz gewandt, oder wenn sie eine Bitte hatten. Sie war die Hüterin der Seen und Quellen und alles Lebendigen.
Jerssa kam es vor, als sage sie schon seit Stunden die Gebete auf und schöpfe Wasser. Entmutigt hielt sie inne, als sie ein Prickeln zwischen den Schulterblättern verspürte. Langsam drehte sie sich um und sah eine Frau, die in lässiger Haltung am Ufer saß und auf das Wasser blickte. Ohne den Kopf zu wenden, winkte die Unbekannte Jerssa zu sich heran. Ängstlich und zögernd folgte sie der Aufforderung, bis sie neben der Gestalt stand. Es war irgendwie unmöglich, die Frau genau anzuschauen. Langes schwarzes Haar, schlanke Glieder und ein grünes Gewand vielleicht. Jerssa war sich nicht sicher, aber dann drehte die Gestalt den Kopf und dann sah das Mädchen nur noch diese Augen. Riesig und silbrig grau schienen sie bis in ihre Seele zu schauen.
Jerssa konnte sich nicht bewegen, sie versank völlig in diesem Blick, der sie erforschte bis in den kleinsten Winkel ihres Selbst. Dann fühlte sie die Worte der Fremden mehr, als sie die Laute hörte. "Das Wasser reinigt, mein Kind. Es nimmt weg, was dich bindet. Dein Weg führt über die Berge, geh frei und ledig dahin, wo dein Schicksal auf dich wartet."
Jerssa war kraftlos auf die Knie gesunken, doch als sie wieder aufschaute, war sie allein. Wie im Traum streifte sie ihren zerlumpten Kittel ab und ging in das kühle Wasser des Sees. Der feine Sand des Ufers diente ihr als Reinigungsmittel, und wonnevoll schrubbte sie ihren Körper endlich sauber. Einige Striemen fingen an zu bluten und alter Schorf löste sich, doch Jerssa genoss es geradezu. Sie legte mit dem Schmutz endlich das Gewand ihrer Knechtschaft ab.
Als sie endlich aus dem Weiher stieg, streifte sie mit beiden Händen das Wasser von ihrer Haut, und als sie über ihre Schultern streifte, fühlten sich beide glatt und sauber an. Benommen und ungläubig fuhr sie immer wieder über die Stelle, an der sich das Brandmal ihrer Knechtschaft befunden hatte – aber die Stelle war völlig frei von Narben. Das Mal war verschwunden, so als wäre es nie dagewesen.
"Das Wasser reinigt, mein Kind. Es nimmt weg, was dich bindet." Jerssa erinnerte sich an die Worte Jeranas, denn diese war es gewesen, die ihr hier erschienen war. Dann lachte sie, laut und schallend, wie sie es niemals vorher gewagt hatte zu tun. Dann beschritt sie den Pfad, der sie über die Berge in die Heimat ihres Volkes führen und den sie als freier Mensch betreten würde.
© "Das Brandmal: Das zerlumpte Mädchen": Fantasy Erzählung von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: oben Treffen im Wald, sowie unten Mädchen und Sternenhimmel (beide CC0, Public Domain Lizenz).
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