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"Die Geisterseher" ist eine Anthologie mit phantastischen Kurzgeschichten aus der englischsprachigen Welt. Die Herausgeber Reinhard Klein-Arendt und Michael Schmidt haben fünfzehn Geschichten zusammengestellt, die über haarsträubende Begegnungen mit dem Jenseits und gespenstischen Widersachern aus dem Diesseits berichten.
Der Auftaktband der neuen "Geisterseher"-Reihe enthält, als "Zwielicht"-Sonderband, Erzählungen aus dem Zeitraum 1895 bis 1940, die sich mit dem übersinnlichen Phänomen der Geister beschäftigen.
Jede Geschichte wurde sorgfältig ausgesucht und übersetzt von Reinhard Klein-Arendt und ist mit einer Einleitung von ihm versehen; auch die im Buch enthaltenen Autoren werden kurz vorgestellt. Bis auf zwei Erzählungen handelt es sich um deutschsprachige Erstveröffentlichungen (eine Liste findet ihr nach der Leseprobe von "Die schwindelerregende Geschichte vom hohen Berg und den drei Skeletten").
Da wird nicht nur eine junge Frau von einem Blinden entführt, auch Kinder verschwinden spurlos. Vampirfledermäuse tauchen auf und andere schreckliche Dinge geschehen. Aufgepasst, ihr Opfer: Ihr werdet merkwürdige Träume haben, die immer realer erscheinen und gefährliche Wirkung zeigen.
Das Titelbild zu "Die Geisterseher" erschuf Björn Ian Craig. Die Illustrationen stammen von Adrian van Schwamen.
Ganz oben, auf einem unzugänglichen Felsvorsprung in den neuseeländischen Alpen sieht man eine Ansammlung von menschlichen Skeletten. Zumindest könnte man sie sehen, wenn es denn für irgendetwas, das nicht mit Flügeln ausgestattet ist, möglich wäre, aus der Vogelperspektive einen Blick auf diesen Felsvorsprung zu werfen, der auf halbem Weg zwischen Erde und Himmel hängt.
Aber die schroffe Wand darüber wölbt sich nach vorne und versperrt den Blick auf alles, was sich darunter befindet. Selbst wenn es dort oben einen Platz gäbe, an dem sich ein Mensch oder eine Ziege für eine Sekunde festhalten könnte, wäre der Blick versperrt. Dieselbe schroffe Felswand wölbt sich aber auch unterhalb des Felsvorsprungs und versperrt damit den Blick vom darunter liegenden Pass nach oben.
Der Pass selbst ist schmal, und niemand kommt jemals diesen Weg entlang, teils weil nichts zu holen ist, wenn man den Gipfel besteigt – denn er würde auf dem freien Markt keinen Cent wert sein, da er höchstens gutes Material für den Straßenbau hergibt, – teils weil, sollte jemand diesen Gipfel bezwingen, dieser ihn nur zu einem messerscharfen Grat führen würde, und dieser Grat führt nirgendwo hin. Grund ist vor allem aber, dass selbst der Fürst der Finsternis, auch wenn er sich mit Hörnern, Klauen, Schwanz und all seinen anderen Körperteilen und Utensilien an der Felswand festhielte, keinen Halt fände und auf die darunter liegenden Felsen und Geröllbrocken stürzen würde.
Folglich ist die einzige Stelle, von der aus man einen Blick auf den Felsvorsprung und die Skelette hat, dort, wo niemand jemals hingelangen könnte. Selbst wenn man sie erreichte, würde niemand jemals wieder von dort zurückkommen, um zu erzählen, was er gesehen hat.
Die Skelette ruhen dort oben friedlich und ungestört, die Jahre ziehen vorbei, die Jahreszeiten kommen und gehen. Bei Regen und bei Sonnenschein, bei Gewitter und bei Wintersturm kauern sie da, starren auf die gewaltige Eintönigkeit der Alpen und sinnieren über die stille, unveränderliche Majestät der großen unveränderlichen Berge.
Sie sehen aus, als würden sie sich selbst fragen, wie sie auf diese erstaunliche Höhe gelangt sind, denn weder vor noch hinter ihnen gibt es einen möglichen Weg, und oben und unten nichts als nackten, glitschigen, überhängenden Fels. Sie sind in den Wolken gestrandet und werden dort wahrscheinlich ungestört bleiben, bis der Erzengel Gabriel höchstpersönlich hinaufsteigt, um ihre Überreste am Tag der allgemeinen Auferstehung einzusammeln.
Sie liegen hintereinander, denn dafür ist der Felsvorsprung lang genug, aber er ist nicht breit genug, um auch nur zweien von ihnen nebeneinander Platz zu lassen. Der Mann ganz vorne auf dem Vorsprung – oder das vertrocknete und knarzende Wrack dessen, was einmal ein Mann gewesen war – hockt immer noch auf einem zerfledderten und durchgerosteten Sattel.
Der Mann dahinter liegt auf dem Rücken, der Regen dringt durch seinen Kiefer und seine ausgedienten Augenlöcher ein und veranstaltet in seinem fleischlosen Schädel eine Art Hochwasser. Bei trockener Witterung verdunstet das Wasser, in der Regenzeit hingegen schwappt der Schädel ständig über. Es ist offensichtlich, dass das schon viele Jahre so geht, denn er ist inzwischen fast zur Hälfte mit Sedimenten gefüllt, die von den vielen Stürmen hinterlassen wurden. Ansonsten gibt es nichts Bemerkenswertes an ihm. Das dritte Mitglied der Gruppe hat praktisch keinerlei Merkmale. Alles, was man von ihm sehen kann, reicht nicht einmal aus, um eine vernünftige Geschichte zu erzählen. Er war unbedeutend, als er noch lebte. Jetzt, da er nicht mehr lebt, ist er nichts als ein Schemen.
Es gibt dann noch ein paar andere Gegenstände, die fast zu klein sind, um sie zu erwähnen: ein verrosteter Kochtopf, die Fragmente eines Gewehrs und ein vergammeltes Fetzchen, das einmal eine Decke gewesen sein könnte. Das ist alles.
Ansonsten ist es still oben und still unten. Es gibt in dem engen Pass wenig Licht, dafür aber viel unheimlichen Schatten. Das Sonnenlicht kriecht nur mit Mühe hinein, und der Mond spielt dort fantastische Streiche. Und wenn weder Sonne noch Mond scheinen und das einzige Licht das Schimmern der eisigen Sterne ist, scheint zumindest in einem der drei Toten – dem mit dem Schädel voll Wasser und Schlamm – neues Leben zu erwachen. Man könnte dann meinen, dass sich eine Art Mienenspiel auf seinem knöchernen Gesicht abzeichnet.
Es ist jedoch nur der Abglanz der Sterne, der durch seine leeren Augenlöcher schimmert. Dieser Abglanz wird in einem spitzen Winkel durch seine halb geöffneten Kiefer zurückgeworfen. Das verleiht seinem Gesicht fast schon einen humorvollen Ausdruck, aber der Humor ist verschwendet – an einem Ort, zu dem nicht einmal eine Ziege hinaufklettern könnte, um sich an dem Frohsinn zu beteiligen. Wenn man bedenkt, wie wenig Anlass zur Freude es auf Erden gibt, ist es eine vergeudete Gemütsregung: Da lacht der tote Mann auf dem Berg sein gleichbleibendes Lachen und es gibt kein Publikum, das ihm dabei Gesellschaft leistet. ...
Unsere Leseempfehlung: (Werbelink) Die Phantastik-Anthologie "Die Geisterseher" ist nicht nur für Leser, die Schauriges und Makabres lieben. Greift zur gebundenen Ausgabe oder zum E-Book und euch wird ein Schauer über den Rücken laufen! Das Buch ist 365 Seiten stark und wurde Mitte Februar 2025 veröffentlicht.
Folgende deutschsprachige Erstveröffentlichungen sind enthalten
...zunächst das Vorwort des Herausgebers Reinhard Klein-Arendt
Thomas Burke – Johnson, blick dich nicht um...!
Madeline Yale Wynne – Das kleine Zimmer
Henry Chapman Mercer – Das Schloss der Puppen
Ernest Favenc – Die Pest des Jahres 1905
Ulric Daubeny – Der Elementar
Thomas Burke – Die Ahnentafeln des Hauses Li
Henry S. Whitehead – Die schwarze Bestie
James Edmond – Die schwindelerregende Geschichte vom hohen Berg und den drei Skeletten
Patrick Carleton – Die Residenz des Dr. Horder
Elinor Mordaunt – Luz
Herbert Russell Wakefield – Die erste Garbe
Wirt Gerrare – Die geheimnisvolle Maisse
Alice Perrin – Das Tigeramulett
Bereits andernorts sind zuvor erschienen:
Edward Frederic Benson – Die Schritte (The Step 1926) in "Zwielicht 18"
Arabella Kenealy – Das heimgesuchte Kind (The Haunted Child 1896) in "Zwielicht 19"
Noch mehr Horror und Phantastik lesen: "Zwielicht 21", mit Leseprobe aus "Das Dreieck des Schreckens" von William F. Temple.
Auf der Webseite des Herausgebers Michael Schmidt findet ihr eine Fülle an Informationen zu sämtlichen "Zwielicht"-Buchausgaben und anderen Veröffentlichungen zu den Genres Horror und unheimliche Phantastik.
© "Die schwindelerregende Geschichte vom hohen Berg und den drei Skeletten": Den Herausgebern von "Die Geisterseher" sagen wir herzlichen Dank für diese Textauswahl, 03/2025.
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Taschenbücher von Eleonore Radtberger sowie von Ilona E. Schwartz
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