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Eine Kunstrezension von Anja Junghans-Demtröder
Die Eisenbahn war für viele Impressionisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein hochaktuelles und zugleich modernes Thema. Züge galten als technisches Wunderwerk der Industrialisierung und viele Impressionisten besannen sich darauf, die Eisenbahn nicht nur als Erscheinungsobjekt von Landschaftsbildern zu sehen. Schon William Turner lieferte mit seinem im Jahre 1844 entstandenen Gemälde "Regen, Dampf und Geschwindigkeit" das Vorbild eines gelungenen impressionistischen Bildwerkes ab, bei dem Licht, Farbe und Atmosphäre als wichtigste Bestandteile der Malerei im Vordergrund stehen.
In den 1860er Jahren begaben sich viele französische Künstler aus den Vorstädten nach Paris, um sich in ummittelbarer Nähe dem Studium der Eisenbahnen zu widmen. Diese gehörten mittlerweile zum normalen Alltagsgeschehen dazu und die meisten Maler waren den Anblick von vorbeifahrenden Zügen gewohnt. Der Bahnhof Saint-Lazare – erstmalig 1837 zunächst als eine aus Holz gefertigte Bahnhofsstation in Paris eröffnet – wurde von 1841 bis 1853 zu einer mehrgleisigen modernen Bahnhofsanlage umgebaut. Von hier aus herrschte reger Beförderungsverkehr. Édouard Manet wählte den Bahnhof als Inspirationsquelle seines im Jahre 1873 entstandenen Gemäldes "Die Eisenbahn". Manet war – im Gegensatz zu Claude Monet – kein Freilichtmaler in dem Sinne. Er begann seine Ideen nach dem Vorbild Turners vor Ort zu skizzieren. Die Vervollkommnung seiner Impression begann er anschließend in seinem Atelier.
Die Tatsache, dass Manet einen heranfahrenden Zug durch aufsteigenden Rauch andeutete und das angrenzende vornehme Wohngebiet nur schemenhaft im Hintergrund erkennbar ist, entfachte bei der Kritik ein hohes Maß an Empörung. Während Claude Monet in seinem 1877 entstandenen Werk "Bahnhof Saint-Lazare" eine belebte Bahnhofsatmosphäre schuf, charakterisierte Manet als Bildschwerpunkt die unterschiedlichen Stimmungen zweier Personen, die als Hauptfiguren im Vordergrund standen. Vor einer Gitterabsperrung hatte sich eine junge Frau – neben ihr stehend ein junges Mädchen – bequem zum Lesen eines Buches niedergelassen. Sie sitzt mit erhobenem Blick und scheint von ihrer aufgeschlagenen Lektüre abgelenkt irgendetwas zu beobachten, während das Mädchen neugierig die vorbeifahrende Lokomotive verfolgt. Jeder scheint auf eigene Art in seine Gedanken versunken und damit beschäftigt zu sein.
Manet machte aus seiner Bildimpression ein Geheimnis, denn wie lässt es sich sonst erklären, dass der Schwerpunkt des Bildes vom eigentlichen Bildthema abweicht – sehr zum Unverständnis der Kritik, die ihm in der Hinsicht mangelnde Bemühungen unterstellten, da Manet Details in der Darstellung offensichtlich für entbehrlich hielt. Claude Monet hingegen war eher als Maler von Landschaften im Umland von Paris bekannt und unterschied sich in seiner Geisteshaltung, was das künstlerische Umfeld betraf, sehr von Manet. Manet war weltlicher und sah sich als Teil der Pariser Gesellschaft. Monet war ein Gegner des städtischen Trubels und fand daher nur selten den Weg in die Stadt. Es kam jedoch vor, dass er abweichend von seinen Küsten- und Landschaftsbildern zeitgenössische Themen in Paris aufgriff.
Mit dem Werk des Bahnhof Saint-Lazare orientierte Monet sich im Jahre 1877 thematisch an seinem eigenwilligen Vorbild Manet, wobei Ausdruck und Darstellung im Vergleich beider Maler eher konträr wirken. Entscheidend hierfür ist sicher auch die Kunstform, die eine unterschiedliche Arbeitsweise beider Maler bewirkt, die sich auch im Ergebnis bemerkbar macht. Monet befand nur in der freien Natur Besseres zu leisten, während Manet die eigentliche Hauptarbeit in seinem Atelier ausführte.
In der Freilichtmalerei fand Monet seine wahre Gesinnung und arbeitete ausschließlich unter freiem Himmel in unmittelbarer Nähe seines Motivs. Skizzenhafte Vorstudien – wie es Manet zur Angewohnheit hatte – waren ihm fremd. Es ist unverkennbar, dass Claude Monet bei seiner Komposition sich genaueren Studien hingegeben hat, als es bei Manet der Fall war, der bei seiner Ausarbeitung zwar mit natürlichen und frischen Farben eine gewisse Harmonie erreicht, jedoch ist offensichtlich, das Monets Werk wie aus dem Leben gegriffen scheint.
Monets Interpretation lässt den Betrachter nicht ermüden, was die ruhevolle und innehaltende Stimmungslage in Manets Gemälde eher hervorzurufen scheint. Manet vermochte keine effektvolle Bewegung in seine Komposition einzubauen, wichtige Details, die allenfalls wie schon erwähnt angedeutet sind, fehlen, was den Ausschluss für eine eher eintönige schweigende Atmosphäre gegeben hat.
Monet erreichte durch besondere Effekte eine faszinierende Lebendigkeit. Man spürt die einfahrenden Züge förmlich herannahen, man glaubt, die Ansagen zu hören, das Quietschen der Gleise zu vernehmen, zudem bewirkt der Künstler durch die aufsteigenden Rauchwolken, die sich nach oben hin allmählich verflüssigen, eine gewisse Bewegung der Objekte. Die Bahnhofsarbeiter wirken beschäftigt und die am Seitenrand stehenden Fahrgäste komplettieren das Ganze zu einer realistischen Bahnhofsatmosphäre.
Beide Maler hinterließen uns beeindruckende Zeitdokumente, die sich zum einen durch Natürlichkeit und Harmonie der Farben, und zum anderen durch ein lebendiges und dynamisches Schauspiel auszeichnen.
© "Eisenbahnen auf Gemälden des Impressionismus": Eine Kunstrezension von Anja Junghans-Demtröder.
Von der Autorin Anja Junghans-Demtröder sind weitere Kunstrezensionen erschienen:
– Édouard Manet: Die Malerei der Maskerade
– Claude Monet: Unter freiem Himmel ein malerischer Realist
– William Turner: Ausdruck und Dynamik eines neuen Zeitalters
Die Abbildungen zeigen:
– oben: Gemälde von Claude Monet Bahnhof Saint-Lazare (1877), Lizenz: Public domain
– mitte: Gemälde von Édouard Manet Die Eisenbahn (1873), Lizenz: gemeinfrei
– unten: Gemälde von William Turner Regen, Dampf und Geschwindigkeit (1844), Lizenz: gemeinfrei.
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