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Heutzutage hat sie jeder. Es ist geradezu eine Pflichtübung, eine zu haben. Eine Neurose ... in neudeutsch auch Nervolabilität genannt. Das klingt nach Stress, Überarbeitung, Überforderung, modernem Leben. Neurosen liegen irgendwo zwischen Hyperaktivität und Psychotief. Eben zwischen zwei Superlativen. Es gibt sicher auch Hyper- oder Superneurosen, wie es Supermärkte, super saubere Wäsche, Superstars und Superfußballer gibt. Oder Hyperfunktionen in alle Himmelsrichtungen. Das nennt man dann Dynamik. Warum soll ich mich mit einer einfachen Neurose begnügen?
Zur Erforschung aller Hyper- und Supersyndrome sollte man einen Lehrstuhl bei einer sprachwissenschaftlichen Fakultät einrichten. Leider ist zu befürchten, dass der Lehrstuhlinhaber in ein psychologisches Loch fällt. Dann landet er im Underground und bekommt eine Neurose.
Doch zurück zur Realität. Wie behandelt man diese Missgeburten, die uns das Leben schwer machen? Vielleicht mit einem Feinwaschmittel ohne PH-Wert gegen aktive Neurosen? Oder mit einem biologisch abbaubaren, nicht umweltbelastenden Klarspülmittel ? Das würde ein Hyper oder Super Renner! Leider hat noch kein Biochemiker so etwas produziert. So müssen wir uns eben weiterhin mit unseren neurotischen Marotten herumplagen. Und das kann so aussehen:
Beispiel 1: Schlüsselbund gesucht, fünf Minuten zuvor noch irgendwo gesehen. Überlegt, was zu tun ist, wenn Schlüssel unauffindbar. Gemerkt, dass es halb sieben ist, und der Schlüsseldienst Feierabend hat. Festgestellt, dass ich ja noch im Haus bin. Dass ich aber nicht mehr reinkomme, wenn ich rausgehe, ohne Schlüssel. In Zeitdruck gekommen. Schlüsselbund unterm Zeitungsstapel, im Kühlschrank und unter der Bettdecke gesucht. Schlüsselbund im Gefrierfach gefunden. Den Vorsatz gefasst, in Zukunft aufzuschreiben, wo ich den Schlüssel finde. Vergessen, dass ich ein Schlüsselbrett an der Wand im Flur habe.
Beispiel 2: Konzertkarten eingesteckt. Schlüssel an einer dekorativen Kette um den Hals gehängt. Wasserhähne zugedreht, Herd und Spülmaschine ausgeschaltet. Alle Fenster geschlossen, alle Lichter gelöscht. Im ganzen Haus herumgelaufen, von oben nach unten, von unten nach oben. Überlegt, ob ich alles kontrolliert habe. Unsicher geworden. Nochmaliger Rundgang in umgekehrter Reihenfolge. Ein Geräusch gehört, klang wie Wasserrauschen. Erleichtert festgestellt, dass es regnet. Trotzdem noch mal die Wasserhähne kontrolliert.
Solange kontrolliert, bis die Dichtung platzte. Flaschner geholt (der Notdienst war noch zu erreichen). Pfützen aufgewischt. Das Konzert war eben aus, als ich ankam. Per Annonce jemanden gesucht, dem ich meine neurotischen Marotten schenken könnte. Leider niemand gefunden. Froh gewesen, dass sich niemand gemeldet hat.
© Textbeitrag "Neurose: Heutzutage hat sie jeder" von Elisabeth Zimmerer; mit freundlicher Genehmigung von Heidrun Böhm. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
Zur Autorenseite von Heidrun Böhm.
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