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"Lisa saß in ihrem Auto. Der vor ihr liegende Arbeitstag spukte in ihrem Kopf herum. Welche Aufgaben würden heute auf sie warten? Ihr fielen kaum welche ein.
Lisa war Sachbearbeiterin in einem mittelgroßen Unternehmen und teilte sich mit einer Kollegin ein Büro. Beide Frauen hatten ein ähnliches Aufgabengebiet.
Lisa betrachtete häufig den Schreibtisch ihrer Kollegin und bemerkte, dass dieser mit Papieren, Unterlagen und diversen Büroartikeln bedeckt war. Lisas Schreibtisch war immer aufgeräumt. So aufgeräumt, dass sie sich schon das eine oder andere Mal von Kollegen hatte anhören müssen, dass sie wohl nichts zu tun hätte oder zu faul zum Arbeiten wäre (vgl. Rothlin & Werder, 2007). Was sollte sie machen, sie hatte fast nichts zu tun. Aber sollte sie das zugeben? Ihren Schreibtisch ebenfalls mit Papieren zu "dekorieren", das war nicht ihr Stil.
Natürlich hatte sie schon mehrmals überlegt, warum sie so viel "Luft" hatte. Sie arbeitete nach ihrem bewährten Ordnungssystem. Während ihre Kollegin bei Anfragen erst einmal den kompletten Schreibtisch durchwühlte, was meistens so ähnlich aussah wie beim Schlussverkauf im Kaufhaus, reichte bei ihr ein Handgriff, um den Vorgang zu finden.
Aber konnte es allein daran liegen?
Lisa und ihre Kollegin vertraten sich gegenseitig in der Urlaubszeit. In der Nacht zum ersten Tag ihrer Urlaubsvertretung war Lisa aufgeregt wie ein Kind zu Weihnachten. Sie wusste, dass der Acht-Stunden-Tag schnell vergehen würde. Der Gedanke, den ganzen Tag beschäftigt zu sein und sich nicht verstellen zu müssen, zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht. Auch ihre üblichen Grübeleien, Magenschmerzen und Schlafstörungen (vgl. Satow, 2013) waren wie weggeblasen."
Was bei dieser Arbeitnehmerin die gesundheitlichen Beeinträchtigungen verursachte, wird als Boreout bezeichnet. Die chronische und langanhaltende Langeweile ist ebenso eine psychische Belastung wie das Gegenteil, das Burnout.
Für die Autoren Rothlin und Werder ("Die Diagnose Boreout", 2007) gibt es drei unterschiedliche Gründe für ein Boreout. Sie differenzieren zwischen Langeweile, Unterforderung und Desinteresse am Arbeitsplatz. Arbeitnehmer, die sich langweilen, fehlt der Ansporn, etwas zu tun. Von einer Unterforderung wird gesprochen, wenn das Wissen des Arbeitnehmers höher ist als der Arbeitsinhalt. Bei einem Desinteresse ist dem Arbeitgeber die Arbeit völlig egal bzw. gleich.
Während Burnout in aller Munde ist, fehlt es Boreout noch an Bekanntheit. Gibt man die beiden Begriffe in eine Internetsuchmaschine ein, so erhält man zum Thema Burnout 62 Millionen Einträge, der Begriff Boreout schafft es gerade mal auf gut 550.000 Erwähnungen. Es verstärkt sich die Annahme, dass es in der Gesellschaft fast schon wichtig ist, ein Burnout zu haben. Dieser Begriff scheint fast wie ein magisches Wort oder erstrebenswertes berufliches Ziel zu sein, obwohl es alles andere als das ist.
Bei einem Boreout sieht das ganz anders aus. Wer gibt schon gern zu, dass er wenig an seinem Arbeitsplatz zu tun hat oder dieser ihn nicht interessiert? In unserer extremen Leistungsgesellschaft ist Langeweile ein Fremdwort. Nichts zu tun zu haben, bedeutet, nicht engagiert zu sein. Vielleicht nicht wichtig genug zu sein. Nichts wert zu sein?
Ein Arbeitnehmer, der an seinem Arbeitsplatz wenig zu tun hat, entwickelt im Laufe der Zeit Taktiken, um diese Freizeit zu tarnen. Rothlin und Werder unterscheiden hier z. B. die folgenden Strategien:
❶ Bei der Komprimierungsstrategie erledigt der Arbeitnehmer die gestellten Aufgaben schnell und effizient. Er teilt dieses seinem Vorgesetzten jedoch nicht mit. Ein Vorteil dieser Strategie: Der Arbeitnehmer kann auf Wunsch, auch vor dem Abgabetermin, mit der fertigen Aufgabe punkten.
❷ Bei der strategischen Verhinderung versucht der Arbeitnehmer zum Beispiel einen Kollegen absichtlich am Nachmittag zu kontaktieren, obwohl er weiß, dass dieser nur vormittags im Unternehmen ist. Der Vorgang kann so "leider" nicht bearbeitet werden.
❸ Wenn aus einem Büro laute Schreib- oder Tastaturgeräusche kommen, dann wendet dieser Arbeitnehmer womöglich die Lärmstrategie an. Das geräuschreiche Schreiben soll hohe Beschäftigung symbolisieren.
❹ Weit verbreitet ist die Pseudo-Strategie: Der Arbeitnehmer versucht hier, so zu tun, als ob er sehr beschäftigt ist. Also den Schreibtisch mit allen möglichen Unterlagen zu bedecken. Dieser Arbeitnehmer erwähnt, dass er wirklich viel Arbeit hat, auch der Begriff der Leiharbeitskraft kann fallen.
❺ Relativ neu hingegen ist die Spam-Strategie (Rothlin & Werder, 2009). Arbeitnehmer schicken ihre erstellten Konzepte per E-Mail an einen großen Verteiler. Die Wichtigkeit des Arbeitnehmers soll somit vorgetäuscht werden.
❻ Die Strategie mit dem lustigen Namen "Der kleine und der große Müller" beschreibt, dass Arbeitnehmer auswärtige Kundenbesuche so legen, dass sie nach Gesprächsende gleich nach Hause fahren können, ohne noch das Büro zu betreten (Rothlin & Werder, 2009).
"Als Lisa nun mit der Urlaubsvertretung begann, bemerkte sie schnell, dass viele Aufgaben überflüssig waren. Nach Rücksprache mit einem Kunden stellte Lisa fest, dass dieser nur die nackten Zahlen als Excel-Tabelle benötigte. Lisa konnte den Unterlagen entnehmen, dass ihre Kollegin die Tabelle jedes Mal noch "ausgeschmückt" hatte, mit allen Möglichkeiten, die ihr Excel optisch bot. Lisa brauchte für ihre Tabellenerstellung fünf Minuten, Lisas Kollegin schätzungsweise 90 Minuten. Sie war sich nicht ganz klar darüber, ob ihre Kollegin einfach nur langsam arbeitete, weil es ihr Naturell war, oder ob sie auch unter einem Boreout litt und ganz geschickt die Pseudo-Strategie anwandte. Sicher war sich Lisa aber darüber, dass auch ihre Kollegin mit ihren Aufgaben unterfordert war. Und es gab eindeutig zu wenig Arbeit für zwei Arbeitsplätze."
Um Mitarbeiter vor einem Boreout zu schützen, ist es sinnvoll, schon beim Vorstellungsgespräch eine realistische Tätigkeitsvorschau abzugeben. Diese beinhaltet die genaue Beschreibung des Aufgabengebietes – je detaillierter, desto besser. Das setzt natürlich voraus, dass das Vorstellungsgespräch von einer qualifizierten Fachkraft geführt wird. Auch sollte die Qualifikation des Arbeitnehmers mit den Stellenanforderungen übereinstimmen. In diesem Zusammenhang muss sich die Gesellschaft auch fragen: Wie viele Akademiker verträgt der Arbeitsmarkt? Muss jeder Büroarbeitsplatz mit überqualifizierten Absolventen besetzt werden? Ist hier möglicherweise nicht ein Boreout schon vorprogrammiert?
"Lisa hat ihrem Vorgesetzten in einem Gespräch ihre Situation geschildert. Er bot ihr einen Teilzeitarbeitsplatz und die Finanzierung einer Weiterbildung an. Sie hatte dabei das Gefühl, dass er ihren Arbeitsplatz aus personaltaktischen Gründen halten wollte (vgl. Rothlin & Werder, 2014). Lisa entschied sich gegen die viele "Freizeit" im Job, die sie auch als Teilzeitarbeitnehmerin hätte. Nein, sie wollte nicht aus Langeweile den halben Tag privat im Internet surfen.
Lisa hat mittlerweile ein kleines Geschäft eröffnet. Sie ist motiviert (vgl. Satow, 2013), glücklich und meistert die täglichen Herausforderungen als Geschäftsinhaberin, dank ihres BWL-Studiums, problemlos. Und ohne Probleme schläft sie jetzt auch jede Nacht durch."
Anmerkungen: Lisas Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Der Name wurde selbstverständlich geändert.
Die Autorin und freiberufliche Beraterin Gabriela Lürßen ist für den Handel und das Handwerk sowie deren Mitarbeiter aktiv. Über Möglichkeiten ihrer praktischen und nachhaltigen Beratung auf Augenhöhe kann man sich auf der Webseite von www.praktischberatung.de informieren.
Quellen *:
Rothlin, P. & Werder, P. R. (2007). Die Diagnose Boreout. Warum Unterforderung im Job krank macht.
Rothlin, P. & Werder, P. R. (2009). Die Boreout-Falle. Wie Unternehmen Langeweile und Leerlauf vermeiden.
Rothlin, P. & Werder, P. R. (2014). Unterfordert: Diagnose Boreout – Wenn Langeweile krank macht.
Satow, L. (2013). Burnout-Mobbing-Inventar (BMI): Test- und Skalendokumentation.
* Die Fachbücher von Rothlin & Werder sind beim Redline Verlag erschienen und über den Buchhandel in verschiedenen Formaten erhältlich.
© "Boreout: Krank werden durch Nichtstun. Gibt es das?": Textbeitrag von Gabriela Lürßen, 2017. Bildnachweis: Boxer beim Relaxen, CC0 (Public Domain Lizenz).
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