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Sechs der Kelche
Diese Karte des Rider-Waite-Tarot sieht eigentlich eher wie eine Seite aus einem Märchenbuch aus, denn alles ist idyllisch und schön. Eine kleine Gestalt in bunter Kleidung und Zipfelmütze – ein Junge oder sogar ein Zwerg – reicht einem Mädchen oder einem Elfenwesen einen Kelch.
Weitere Pokale sind im Bildvordergrund, und einer steht auf einem steinernen Podest. Alle Gefäße, auch der, welcher überreicht wird, sind mit weißen Blumen gefüllt, einem Symbol für Unschuld. Die hübsche Szene spielt sich in einer Stadt oder einem Schlosshof ab, über dem sich ein zartblauer Himmel spannt. Hier scheint es nichts Bedrohliches zu geben, auch keinen Zwang oder irgendeine Art von Furcht.
Es ist wie eine Welt, die ein vertrauensvolles Kind vielleicht schaffen würde. Und somit ist die Botschaft der Karte schon recht klar – es geht um die Kindheit im Sinne von Vertrauen und Unschuld. Märchenbücher und Puppenstuben, Spielzeugburgen und Stofftiere – das sind in etwa die Dinge, die die ersten Bürger der kindlichen Welt darstellen. Noch ist alles möglich, der Verstand setzt dem Gefühl und dem Glauben noch keine Grenzen. "Werdet wie die Kinder", sagt ein biblischer Spruch, der in etwa die gleiche Aussage beinhaltet wie die eines Therapeuten, der uns mahnt, das innere Kind gut zu behandeln.
Tatsächlich steckt es ja in jedem von uns – ein Kind, das nie erwachsen werden kann und will. Es ist verantwortlich für vieles, das wir tun – ob wir nun hingebungsvoll einen Zeichentrickfilm ansehen (während unsere Kinder die Nase rümpfen) oder ob wir uns ganz "unerwachsen" über etwas so freuen, dass wir hüpfen könnten. Das innere Kind lässt uns auch Vertrauen schenken – ohne Hintergedanken – und manchmal herrlich albern sein.
Allerdings ist es auch ängstlich, und manchmal fragen wir uns, warum wir uns in der leeren Wohnung auf einmal fürchten, so wie damals, als wir noch klein waren. Die Antwort ist klar – es sind Ängste, die wir nie abgebaut und aus der Kindheit mitgenommen haben. Mit verächtlichem Lachen die Existenz des ewigen Kindes in uns abtun bedeutet nichts weiter, als einen sehr wichtigen Teil von uns nicht zuzulassen. So als sperre man tatsächlich ein Kind in den Keller, wo es unbeachtet dahinvegetiert.
Viele Menschen kennen den Unterschied zwischen "kindlich" und "kindisch" nicht so recht. Ersteres ist eben die Fähigkeit, wie ein Kind zuweilen vertrauensvoll und offen zu sein, ebenso wie verspielt. Das zweite bedeutet in unserem Sprachgebrauch eher so etwas wie Unreife. So, als wenn ein Erwachsener mit dem Fuß aufstampft, wenn etwas nicht so geht, wie er es möchte.
Kindisch sein ist nicht sehr förderlich für die Entwicklung, es verhindert die Reife. Taucht die Sechs der Kelche auf, dann weist sie darauf hin, die Welt auch einmal aus der Sicht des Kindes zu sehen, offen und freundlich zu sein, und sich das Träumen zu erlauben. Wer das innere Kind wegsperrt, dem fehlt ein wichtiger Teil seiner selbst. Ein solcher Mensch neigt zur Verbitterung, die er mit Ernst verwechselt, ebenso wie zur Kälte, die er für Erwachsen sein hält. Und vertrauensvolle Liebe ist ohne das unschuldige Kind eigentlich kaum möglich.
Tritt das Arkanum als Warner auf, weist es tatsächlich darauf hin, sich von der übertriebenen Sehnsucht nach der Vergangenheit zu lösen oder endlich mit der Märchenbuchrealität abzuschließen. Denn Menschen, die eigentlich niemals den "Erwachsenen " in sich zum Zuge kommen lassen, gibt es leider auch. Das hat etwas mit der Weigerung zu tun, für sich selbst einzustehen und Verantwortung zu übernehmen. Solche Zeitgenossen verstehen es, sich alles, was mit Eigenständigkeit zu tun hat, vom Leib zu halten und dies anderen zu überlassen.
Aber mit dem Eintritt in das reale Leben ist es wie mit mancher Kinderkrankheit: Je später sie stattfindet, desto härter wird es. Erwachsen werden und Entwicklung schließen die Fähigkeit zum kindlich sein nicht aus – im Gegenteil.
Sechs der Münzen
Ein sehr gut gekleideter Mann verteilt Münzen an zwei vor ihm kniende Bedürftige. Das tut er mit der rechten Hand – die Linke hält eine Waage. So sieht es aus, als wäge der Geber genau, was er gibt und als habe er sehr wohl die Kontrolle. Der Mann weiß, was er tut – er tut Gutes, aber er tut es nicht selbstlos und mit beiden Händen aus dem Vollen schöpfend. Er selbst hat auch etwas davon, wenn er die Gaben verteilt – er kann sich als gerechten und freigiebigen Menschen sehen.
Die beiden Bettler sind auf den ersten Blick wohl die Schwächeren, aber ohne sie gäbe es die Geste des Gebens nicht. Wir kennen das: Kaum ein Mensch gibt wirklich selbstlos – das muss durchaus nichts mit niederen Beweggründen zu tun haben. Es gibt immer mehr als einen Grund zu helfen oder zu geben.
Manche Menschen tun es ganz offen, um der Dankbarkeit willen, und andere helfen, damit sie sich selber schätzen können. Wieder andere sehen es als Konto für den Himmel, oder sie rechnen gegen bei allem was sie tun. Man kennt die Beschämung, wenn man ein teures Geschenk empfängt und selber nur etwas weit Einfacheres geben kann. Nun wäre das überhaupt kein Problem, würden die Menschen nicht ihre Taschenrechner im Gehirn anwerfen, um die Differenz zu ermitteln.
Leider wird oft nur geschenkt, "damit man mir nichts nachsagen kann", obwohl man absolut keine Lust dazu hat. Andere lehnen jede Gabe ab, um sich hinterher zu beklagen, wie schlecht man sie behandelt. Aber Geben und Nehmen ist eine der Säulen des Lebens – wer hier empfängt, wird da spenden ... und umgekehrt. Es muss überhaupt nicht die gleiche Währung sein.
Es gibt Menschen, die gern und großzügig geben, und ihr Ego lässt nicht zu, dass sie etwas nehmen. Sie sind beleidigt, wenn man ihnen etwas gibt. Somit entwerten sie das, was sie tun, eigentlich völlig, denn wirklich schenken kann man nur mit einer gewissen Demut und nicht, um seinen eigenen Wert künstlich zu steigern, wie viele es tun.
Taucht die Karte bei der Legung auf, sollte man sich vielleicht fragen, wo es ein Ungleichgewicht gibt in unserem Leben. Fordern wir zu viel oder zahlen wir ständig drauf? Brauchen wir vielleicht Hilfe und sind nicht in der Lage sie anzunehmen aus falschem Stolz? Verweigern wir anderen etwas, das wir geben könnten?
Es könnte auch ein Spiel gespielt werden ... eines, das mit Abhängigkeiten zu tun hat. Der Gebende auf der Karte scheint auf den ersten Blick als der Dominante – doch wo wäre er ohne die beiden anderen? Die Karte kann einen Menschen mahnen, mehr an die Bedürfnisse anderer zu denken, als an die eigenen, sie kann aber auch sagen: "Lässt du dich nicht zu sehr ausnutzen?"
Es geht eines in das andere über – aber der Spruch von der linken Hand, die nicht wissen soll, was die rechte tut, kommt hier unter anderem auch zum Tragen. Die Bedeutung gründet ebenso wie der Ausgleich der Dinge auf Zweischneidigkeit – was gemeint ist, wird der Kontext der anderen Arkanen zeigen.
* * * Tarot-Karte VI Kelche und Münzen: Ende der Leseprobe aus unserem Buch * * *
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© "Die Karte Sechs: Kelche und Münzen": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), Eleonore Radtberger, 2010.
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