|
Nimmi biss sich auf die Lippen, um das, was ihr auf der Zunge lag, nicht herausschreien zu müssen. Missmutig drehte sie geschickt, aber widerwillig, Binsen zu groben Dochten für die Lampen zusammen, während ihre Mutter mit schweißüberströmtem Gesicht den großen Ofen überwachte, der die kostbaren Kuchen für den morgigen Markttag enthielt. Das alte geschwärzte Riesending war ziemlich tückisch, und nur Enkla konnte richtig mit ihm umgehen. Das war der Grund, warum die Frau des Wirtes noch zu dieser Stunde in der großen Küche arbeitete.
Normalerweise waren nur noch die drei Mägde mit Aufräumen und Saubermachen beschäftigt um diese Zeit. Aber morgen war Ginsterfest, und da wurden viele Gäste erwartet. Nicht, dass Enkla nicht müde gewesen wäre, sie war ebenso lange auf den Beinen wie das Gesinde, aber das half nun nichts, denn die Kuchen wurden morgen gebraucht.
Was Nimmi so wütend machte, war nicht die Tatsache, dass sie alle wohl noch bis Mitternacht arbeiten würden, sondern dass der Wirt selber mit den früh angekommenen Händlern in der Schankstube saß und Reden schwang. Die jüngste Magd ließ alles liegen und rannte rasch hinaus, sobald sie die lauten Rufe nach Wein hörte, und brachte gefüllte Kannen zu den Männern.
Erbittert dachte Nimmi daran, dass der "Gepfählte Räuber" morgen früh ohne den Wirt auskommen musste, weil der in der Kammer schnarchen würde. Enkla und die Mägde würden die schweren Platten aufstellen und alles für den Ansturm der Gäste vorbereiten, und das beim ersten Hahnenschrei.
Mehr als einmal hatte das Mädchen gefragt: "Warum tust du das, warum sagst du ihm nicht, dass er sich selber kümmern soll?" Die Mutter sagte nie etwas dazu, meistens seufzte sie nur auf oder meinte: "Lass gut sein, Nimmi, er ist kein schlechter Mensch."
"Oh nein", dachte das Mädchen, "er ist herzensgut. Vor allem, wenn er zu besoffen ist, um den Riemen zu finden, mit dem er mich vertrimmt."
Der dicke Wirt mit dem schütteren Haar und dem roten Gesicht war zwar kein Raufbold, aber er hatte seine eigenen festgefügten Grundsätze. Sein Weltbild war einfach und ließ niemanden großen Spielraum für Abweichungen. Insbesondere, was die Stellung und die daraus resultierenden Aufgaben der Geschlechter betraf, war Sarrelt nicht bereit, unziemliches Verhalten zu dulden, wie er sagte. Weiber waren für die Küche, die Aufzucht der Kinder und für die Wirtschaftsbesorgung im Allgemeinen da. Sie hatten zu arbeiten und die Männer zu unterstützen, ohne ihnen dreinzureden.
Er erwartete von Enkla, seiner Frau, dass sie das Gesinde beaufsichtigte und dabei selber genauso hart arbeitete wie die Mägde und Knechte. Er war ein harter Mann, der Wirt des "Gepfählten Räubers". Nimmi erinnerte sich voll Abscheu an sein zorniges Gesicht, wenn seine Frau keine Haube trug, die ihr Haar verdeckte. Als Nimmi sechzehn geworden war, hatte er mit Argusaugen darüber gewacht, dass sie sich "schicklich" betrug. Ihr Rücken schmerzte noch heute, wenn sie daran dachte, wie er sie verprügelt hatte, weil sie mit hochgewickeltem Rock über den nahen Bach gesprungen war, um den Weg mit der Wäschewanne abzukürzen.
Ein andermal hatte er mitbekommen, wie sie sich mit dem Stalljungen geprügelt hatte, weil dieser mit Steinen nach dem alten Hofhund geworfen hatte. Nach der Bestrafung wurde sie ohne Abendbrot in ihre Kammer geschickt, die sie mit den Mägden teilte. Als sie vor Zorn schluchzend im Dunkeln lag, spürte sie, wie jemand sie sacht an der Schulter berührte. Plötzlich glitt ein Kanten Brot und ein ordentlicher Batzen Käse auf die Bettdecke. Enkla hatte sich hochgeschlichen. Nach dieser Rauferei zischte der rotznasige Kerl jedes Mal "Kerenlai-Stute" hinter ihr her, doch Nimmi würdigte ihn nie einer Antwort.
Mochte er denken, was er wollte, aber die Kriegerinnen der Keren, des Gebirgsvolkes, müssen sicher nicht mit Röcken herumlaufen und Brunnenwasser schleppen. Nimmi hatte noch nie eine der Frauen der Keren gesehen, obwohl öfter Gruppen von ihnen hier durchkamen auf ihrem Weg zu den Ebenen und den großen Städten. Denn die übernachteten nie im Wirtshaus. Sarrelt hätte das wohl sicher nicht gern gesehen.
Aber am Allerschlimmsten war es, als Sarrelt sie erwischte, wie sie gerade vom Fischen kam. Sie liebte es, noch vor Sonnenaufgang den Hof zu verlassen und unten am See zu angeln. Nach den Vorstellungen des Wirtes war das keine Weibersache, und es hätte sowieso Prügel gesetzt. Aber sie hatte Hosen getragen – dreiviertellange Lederhosen, wie alle Burschen sie trugen. Nimmi mochte die langen hinderlichen Röcke nicht, sie waren fürchterlich unbequem bei der Arbeit, und beim Fischen erst recht.
Sarrelt hatte erst gar nicht nach dem Riemen gesucht, er hatte nach der erstbesten Latte gegriffen und so auf das Mädchen eingeschlagen, dass es zu Boden ging. Aber plötzlich hatte Enkla wie aus dem Boden gewachsen da gestanden. Sie schob sich zwischen Nimmi und ihren Peiniger und wich nicht mehr von der Stelle. Wie im Fieber sah Nimmi, dass Enkla völlig aufrecht vor dem Wirt stand, und nicht etwa wie sonst den Kopf gesenkt und die Schultern gebeugt hatte.
"Mutter ist ja größer als er", schoss es dem Mädchen durch den Kopf, bevor es ohnmächtig wurde. Immer wenn sie später über diesen Eindruck nachdachte, glaubte sie, dass es so etwas wie eine Einbildung gewesen war – eine Täuschung. Nach diesem Vorfall hütete Nimmi fast eine Woche lang das Bett, denn zu den blauen Flecken und Prellungen kam ein schweres Fieber. Sie hatte sonderbare Träume, in denen der Wirt – sie nannte ihn niemals Vater in ihren Gedanken – in die Kammer kam. Aber neben ihrem Lager stand immer Enkla, und da senkte Sarrelt den Kopf und ging hinaus.
Nach diesem Vorfall wurde Nimmi nie mehr so geschlagen. Sarrelt begnügte sich damit, ihr den Riemen ein oder zweimal um die Beine zu schlagen, wenn er es für notwendig hielt. Erwischt hatte er Nimmi aber nie wieder, obgleich sie ihre Ausflüge nicht aufgab.
Das Mädchen war ziemlich groß gewachsen und schlank, in ihren Hosen sah sie fast wie ein Junge aus mit den sehnigen Armen und knochigen Beinen. Seit neuestem trug Nimmi das rötliche Haar kurz, denn als sie im letzten Monat – in der Nacht vor dem Markttag – noch Pasteten zubereitet hatten, war sie einem Binsenlicht zu nahe gekommen. Enkla hatte ihr sofort ihre Schürze über den Kopf geworfen und die Flamme erstickt – aber man hatte alles abschneiden müssen.
Da Nimmi aber ein Tuch trug, konnte diese Frisur die Augen des Wirtes nicht beleidigen, und so war alles in Ordnung. Manchmal beobachtete das Mädchen ihre Mutter bei der Arbeit. Enkla sah anders aus als die Frauen im Ort, die meist ziemlich rundlich und eher klein gewachsen waren. Die Wirtin konnte man fast vierschrötig nennen, sie hatte ein breites Kreuz und war für eine Frau sehr groß. Das fiel nicht ohne weiteres auf, denn sie ging eher gebeugt. Aber trotzdem kam Nimmi dieses Bild in den Sinn, das sie damals zu sehen geglaubt hatte. Sie versuchte abzuschätzen, wie es wohl aussähe, wenn ihre Mutter sich völlig aufrichtete und kam zu dem Schluss, dass sie dann vielleicht einen halben Kopf größer sein würde als ihr Mann, der Wirt.
Ein dröhnender Schlag ließ das müde junge Mädchen aus seinen Gedanken hochfahren. Drüben im Schankraum hatte jemand heftig seinen Humpen auf die Tischplatte gesetzt. Nimmi seufzte, denn wahrscheinlich würde es wieder zu Streit kommen unter den Saufbolden, und die Nacht wäre wieder furchtbar lang. "Geh schlafen, Kind", hörte das Mädchen jetzt die müde Stimme Enklas vom Backtisch her. Aber sie schüttelte den Kopf, diesmal würde sie bleiben.
Der nächste Morgen begrüßte eine fürchterlich müde Nimmi, die höchstens zwei Stunden auf ihrem Strohsack gelegen hatte. Aber trotzdem fuhr sie verdrossen in ihre Kleider und ging nach unten in die Küche, wo schon wieder fieberhafte Tätigkeit herrschte. Die ersten Marktleute waren schon da und verlangten nach heißem Wein, Bier und einem Frühstück. So ging es bis zum späten Nachmittag.
Dann wurde es noch etwas schlimmer, denn plötzlich verdunkelte sich der Himmel und es begann zu regnen, und deswegen schien sich der halbe Markt im "Räuber" zu versammeln. Sarrelt war in Hochstimmung, wenn er auch langsam daran zu zweifeln begann, dass seine Vorräte reichen würden. Doch kurz nach der Dämmerung geschah das größte Unglück, dass er sich denken konnte, denn als die Sonne untergegangen war, flog die Eingangstür auf, und wie aus dem Dunkel geschleudert rollte der Stalljunge herein und blieb vor dem mächtigen Schanktisch liegen.
Alle sahen entsetzt zu dem Jungen hin, und Welka, die junge Magd und Schwester des Burschen, eilte mit einem Aufschrei zu ihm hin. Alle anderen hatten sich von ihren Bänken erhoben, als eine tiefe und amüsiert klingende Stimme sagte: "Wollte doch tatsächlich hierher rennen und unsere Ankunft melden, das Frettchen. Das haben wir ein wenig beschleunigt, so dass es auf jeden Fall vor uns hier sein würde."
Dann folgte vielstimmiges hartes Lachen, und wer da im ersten Moment unbemerkt auf der Schwelle gestanden hatte, betrat nun den Raum, der plötzlich überfüllt war. "Goisars Bande, jetzt helfe uns der Himmel", murmelte Sarrelt.
Etwa zehn Männer hatten sich hereingedrängt, alles wild aussehende, aber sehr gut bewaffnete Gesetzlose, die sich grinsend aufbauten. "Wollte doch einmal sehen, ob es etwas zu rupfen gäbe nach so einem schönen Markttag. Schließlich waren wir einige Zeit nicht hier." Goisar lachte wieder sein tiefes Lachen und sah erheitert um sich. "Es war doch ein sehr ertragreicher Markttag, nicht wahr, Sarrelt?"
"Ich habe euch zukommen lassen, was ihr verlangt", sagte da der Wirt. "Wir hatten eine Abmachung, Goisar." Die Worte Sarrelts erstaunten Nimmi ... er bezahlte also dafür, dass die Gesetzlosen den Ort mieden? Aber was sollte dann das hier?
Da lachte der große Bandit wieder auf: "Das hast du, Wirt, das hast du. Aber auch meine Männer brauchen einmal etwas Unterhaltung – und ich denke, an einem solchen Tag sollte der Zins etwas erhöht werden. Du kannst es dir doch leisten, nicht wahr?"
Ohrenbetäubendes Grölen war die Antwort auf die Rede Goisars. "Tischt auf, und ich rate euch zu Flinkheit." Da begannen einige der Männer, die noch anwesenden und verängstigten Gäste zur Tür hinaus zu treiben, wobei noch einige Geldkatzen den Besitzer wechselten. Einer der Kaufleute versuchte sich zu widersetzen, was damit endete, dass er wie ein kleiner Hund am Kragen nach draußen getragen wurde.
Kurz darauf betrat der Räuber wieder den Raum und steckte seinen Dolch in den Gürtel. Als nur noch die Männer des Banditen im Raum waren, trat einer vor die Tür und ließ einen trillernden, durchdringenden Laut hören. Es dauerte nicht lange und ein ähnlicher Laut antwortete, und einige Augenblicke später brach das Grauen über die Menschen im "Gepfählten Räuber" herein. Fünf weitere Männer Goisars tauchten auf, aber sie hatten Gefangene bei sich. Jeder führte zwei oder gar drei Frauen mit sich, die mit einem Strick zusammengebunden waren wie Vieh. Dann wurden sie in den Schankraum gestoßen, dass sie hinfielen.
Entsetztes Aufkeuchen war zu hören, denn hier im Ort kannte man sich und die gefangenen Frauen waren keine Fremde. "Ihr habt hübsche Gesellschaft mitgebracht, ich hoffe, ihr habt sie nett darum gebeten, uns die Nacht zu versüßen", grölte Goisar. Das Gelächter, das der üble Scherz herbeirief, übertönte sogar das Weinen und Flehen der Frauen. Nimmi sah, dass sich bei einigen das Gesicht zu verfärben begann und alle hatten zerrissene Kleider.
Die hübscheste, die Tochter des Sattlers, war praktisch nackt, ihre schönen Brüste waren unter dem zerrissenen Mieder und den Fetzen der schön bestickten Festtagsbluse fast ganz zu sehen. Die junge Frau weinte nicht, sie starrte zu Boden wie in Trance. Nimmi fuhr es heiß in die Kehle vor Mitleid und Angst.
"Nun hör gut zu, Weinpanscher!" Goisars tiefe Stimme ertönte, nachdem er mit einer Handbewegung für Ruhe gesorgt hatte. "Meine Männer und ich werden uns hier ein wenig erholen diese Nacht, aber da du tatsächlich immer brav den Zins gezahlt hast, kannst du mit deinen Leuten verschwinden. Legt euch in eure verwanzten Betten und schließt eure Ohren, wenn euch euer Leben lieb ist. Wir versorgen uns selber, wo dein Keller ist wissen wir ja. Außerdem ... haben wir uns ja freundliche Bedienungen mitgebracht. Nun verschwindet und verschließt die Tür. Sollte ich irgendetwas von euch hören, bevor wir morgen wieder gehen, steche ich euch ab wie Ferkel."
Damit drehte sich der Räuber um und erteilte Befehle. Sarrelt drängte die entsetzten Frauen und die beiden alten Knechte durch die Tür, die den Schankraum mit der Küche verband. Von da aus führte eine weitere Tür zum oberen Stockwerk und zum Speicher. Diese Tür war aus massivem Holz und verfügte über einen großen Riegel und ein Vorhängeschloss. Da hindurch wurde mit den anderen eine wie betäubte Nimmi gedrängt, die kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie sah, wie Sarrelt den Riegel von innen vorlegte und in fieberhafter Eile einige starke Latten zwischen Stiege und Tür klemmte, um eine zusätzliche Sicherung zu schaffen.
Sarrelt wollte alle die Stufen hinaufscheuchen, aber als er Enkla am Arm fasste, bewegte die sich nicht. Sie drehte ihrem Mann nur das Gesicht zu, das bleich war und im Licht des Mondes weiß schimmerte. Dann sagte sie mit leiser Stimme: "Welka ... sie ist noch drinnen." "Ist noch drinnen?", echote Sarrelt. "Wir haben sie vergessen, sie und den Jungen", sagte Enkla.
Die Mägde fingen an, leise zu schluchzen, weshalb Sarrelt sie anherrschte und zur Ruhe mahnte. "Wollt ihr, dass man uns ermordet?" Er hätte sich keine Gedanken machen müssen, denn vom Schankraum her hörte man Johlen und Stampfen und Gesang. "Wir gehen jetzt hinauf, und dass ihr mir Ruhe haltet."
Enkla rührte sich noch immer nicht. Sie wiederholte nur ihre Worte: "Welka ist noch drinnen." "Ja, und was soll ich dabei tun, Frau? Das dumme Stück hätte mit uns hinausgehen sollen. Oder will jemand noch einmal zurück und den Hauptmann Goisar freundlich bitten, uns Welka und ihren Bruder herauszuschicken? Hört auf zu greinen und seht jetzt zu, dass ihr die Stiege hinaufkommt, sonst mache ich euch Beine."
Auf diese gezischten Worte hin schlichen alle ergeben, wenn auch, was die Frauen betraf, schluchzend die Stufen hinauf. Obwohl Nimmi sich denken konnte, dass vor allem die Angst den Wirt so reden ließ, verachtete sie ihn doch abgrundtief dafür. Aber sie schwieg, jedenfalls so lange, bis sie mit Enkla oben angekommen war. Denn zu ihrem Erstaunen versammelte Sarrelt alle in dem größeren Raum, der ihm und Enkla normalerweise als Schlafkammer diente, und sah nur kurz auf, als Enkla ihre Tochter in die andere Kammer schob und die Türe zuzog.
Erstaunt sah Nimmi ihrer Mutter ins Gesicht, aber diese fasste das Mädchen an den Schultern und flüsterte in eindringlichem Ton: "Hör mir jetzt gut zu, Kind. Ich weiß, dass du mehr als einmal diese Kammer durch das Fenster verlassen hast, um draußen herumzustreunen. Glaubst du, dass du das jetzt tun könntest, und dass du vor allem ungesehen auf die andere Seite des Waldes kommen kannst?"
Beklommen, aber maßlos überrascht, nickte Nimmi, denn ihr war nicht klar gewesen, dass Enkla von ihren kleinen Ausflügen gewusst hatte. "Es sind nicht mehr als zwei oder drei Männer Goisars draußen", flüsterte Enkla weiter, "und die werden von ihren Kumpanen mit Wein versorgt. Sie fühlen sich zu sicher, um nüchtern zu bleiben. Dann öffnete die Mutter Nimmis Truhe und zog die Lederhose heraus. "Zieh die an, Kind! Mach schnell!"
Als Nimmi den Rock abstreifte und in die Beinkleider fuhr, lächelte Enkla schwach. "Du hast sie auf dem Speicher gefunden, nicht wahr?" Als Nimmi verschämt nickte, meinte sie weiter: "Das ist schon gut, Nimmi ... es waren einmal meine." Dann legte sie den Finger auf die Lippen und glitt fast lautlos zur leise geöffneten Tür hinaus. Ihre Schritte auf der schmalen Leiter, die zum Dachboden führte, waren kaum zu hören, und das völlig überraschte Mädchen wunderte sich darüber, wie leise sich ihre Mutter bewegen konnte. Und die Hose war einmal Enklas gewesen? Was wusste sie alles nicht von ihrer stillen und ergebenen Mutter?
Und da kam Enkla zurück und sagte leise: "Das wirst du auch nehmen können, denn es gehört zusammen." Mit diesen Worten gab sie Nimmi eine kurze Tunika, so kurz, dass Sarrelt sich ziemlich aufgeregt hätte, wie das Mädchen schadenfroh dachte. Dazu gab es einen langen Gürtel, der über kreuz um die Hüften gelegt wurde und eine Scheide aufwies. Mit geschickten Händen half Enkla ihrer Tochter, sich anzukleiden. Dann trat sie einen Schritt zurück und zog noch etwas hervor. Ein sehr schöner dünner Dolch, mit einem geschnitzten schmalen Griff war es. Ein so schönes Messer hatte Nimmi noch nie gesehen, und als sie ihn genau betrachtete, sah sie, dass das Heft mit einem geschnitzten Dachs verziert war.
"Jetzt pass auf, Nimmi!" Die Stimme der Mutter forderte nun wieder Aufmerksamkeit. "Geh am Weißbach am Wäscheplatz durch die Furt und durch den kleinen Wald hindurch. Auf der anderen Seite, wo die Dolmen stehen, findest du das Lager der Kerenlai. Sie meiden den "Räuber", wenn sie von den Bergen herunterkommen und hier Station machen auf ihrem Weg in die Ebenen. Du fragst nach der Anführerin und dann zeigst du ihr den Dolch. Dann erzählst du, was hier geschehen ist. Hast du mich verstanden, Nimmi?"
Das Mädchen nickte beklommen, in ihrem Kopf ging es so drunter und drüber wie auf dem großen Anger, wenn die Gaukler da waren. "Aber was wird geschehen, Mutter?"
"Sie werden kommen, aber das muss schnell geschehen. Die Frauen sind noch eine Weile in Sicherheit, jedenfalls solange, bis sich die Kerle in die richtige Stimmung gesoffen und geprahlt haben. Nun geh!"
Nimmi verstand, dass jetzt keine Zeit für Fragen war und schwang ihre Beine über das Fenstersims. Dann balancierte sie nach rechts, bis sie den ausladenden Ast des alten Apfelbaumes erreichen konnte. Von da war es leicht, und kurz darauf flitzte ein schmaler Schatten wie eine Katze über den Innenhof und zum offenen Torweg hinaus. Kein Räuber war zu sehen, man hörte nur Johlen und Schreien aus der Wirtschaft.
Mit schnell pochendem Herzen rannte Nimmi durch die Neumondnacht, aber sie kannte hier jeden Tritt und kam gut voran. Trotzdem schmerzten ihr die Seiten, als sie endlich von ferne einen Feuerschein sah, hinten bei den Dolmen auf der anderen Seite des Waldes.
Da lief sie langsamer, damit ihr Atem sich beruhigen konnte und sie nicht etwa kaum in der Lage sein würde, ihr Anliegen vorzubringen. Mittlerweile war sie recht nahe an das Feuer herangekommen und konnte einige Gestalten umhergehen sehen. Sie roch gebratenes Fleisch und nahm den Geruch von Pferden wahr. Gerade als sie sich fragte, ob man sie überhaupt sprechen lassen würde, spürte sie eine kräftige Hand in ihrem Genick.
"Ja, was haben wir denn da?", kicherte eine dunkle Frauenstimme. "Was macht ein Junge wie du mitten in der Nacht am Lager der Kerenlai? Du hältst dich wohl für unauffällig, wie? Dabei machst du mehr Krach als eine Meute Wildschweine auf der Flucht." Dann lauter: "Seht mal, was ich hier gefunden habe, was machen wir wohl damit?" Dann wurde Nimmi nahe an das große Feuer geschubst, mit einem derben, aber durchaus nicht unfreundlichem Stoß.
Angstvoll sah das zerzauste Mädchen um sich und betrachtete die Kriegerinnen, die sie umgaben. Es waren sicher zwanzig oder mehr, die auf einmal um sie herumstanden. Und außer, dass sie alle in Lederhosen und ebensolche Tuniken gekleidet waren, sahen sie kaum anders aus als andere Frauen. Die meisten waren ebenso groß wie sie selber, und schlank, mit sehnigen Armen und Beinen. Viele trugen ihre Haare in Zöpfen, die um die Köpfe gelegt waren, aber einige waren auch ziemlich kurz geschoren.
Eine Kriegerin mit kurzem dunklem Haar, sie mochte etwa in Enklas Alter sein, fasste Nimmi unter das Kinn und sah ihr in die Augen. Dann lachte sie und sagte laut: "Du hast da etwas gefangen, Aldara – aber du bist wohl zu müde, um deine Beute richtig zu erkennen, wie? Das hier ist kein Junge." Dann lachte die Frau lauthals los, während die Kriegerin Nimmi verdutzt betrachtete.
Nachdem sich die allgemeine Heiterkeit etwas gelegt hatte, räusperte sich Nimmi und zog ihren Dolch heraus, den sie der Anführerin übergab. Jedenfalls glaubte sie, dass es diese war ... die Frau, die so gelacht hatte. Die sah sich die schlanke Waffe an und gab sie dann an die nächststehende Kriegerin weiter. "Woher hast du das Kind, und was willst du von uns, da du in der Nacht zu uns kommst – und das in der Tracht unseres Volkes?"
Da endlich konnte das Mädchen sprechen, und sie erzählte so schnell, wie sie nur konnte. Als sie zu der Stelle mit dem Dolch kam, hob die Frau kurz die Brauen, und von den anderen war erregtes Flüstern zu hören. Die Ältere sprach einige Worte in einer unverständlichen Sprache und machte eine Handbewegung dazu. Dann ging es Schlag auf Schlag. Wie ein gut geöltes Mahlwerk bewegten sich die Kriegerinnen im Dunkeln, das Feuer wurde gelöscht, und in kürzester Zeit saßen alle auf ihren kräftigen Gebirgspferden.
Mit kräftigem Griff wurde Nimmi hochgehoben und hinter eine junge Frau mit hellem Haar gesetzt. Niemand fragte, ob das Mädchen überhaupt schon einmal auf einem Pferd gesessen hatte. Das hatte sie zwar, aber nur heimlich, denn auch darüber hatte Sarrelt so seine Meinung. Fast lautlos ging es durch die Nacht, hinunter zum Bach und die Furt hindurch, bis vor das Dorf. Dann stiegen sie ab und ließen eine Frau bei den Pferden zurück.
Nimmi wurde zum Führer ernannt und intensiv nach den baulichen Gegebenheiten befragt. Wie viele Fenster, wo es Türen gab, und andere Dinge, die dem Mädchen recht sinnlos vorkamen. Aber trotzdem gab sie sich alle Mühe, genauestens zu antworten. Dann schlichen Gestalten von allen Seiten auf die Schenke zu, lautlos und fast nicht zu erkennen. Nimmi hatte nicht sagen können, wo Goisar seine Wachen postiert hatte – aber drei der Kriegerinnen kümmerten sich darum. Als diese nach einigen Minuten wieder ihren Platz einnahmen, grinsten sie zufrieden.
Später wurde Nimmi immer wieder aufgefordert, zu erzählen, wie es gewesen war, aber sie hatte nicht wirklich alles mitbekommen. Vier Frauen verschwanden hinter den Apfelbäumen, die beidseitig des kurzen Weges zur Eingangstür standen, vier schwangen sich auf das Vordach, und mehrere kletterten gewandt wie die Iltisse zu dem Fenster hoch, das zu Nimmis Kammer gehörte.
Aus dem Schankraum hörte man Johlen und Gelächter, es schien, als sei eine Art Versteigerung im Gange. Das klang nicht einmal übel, dachte sich Nimmi, denn es bedeutete, dass die Frauen noch relativ unversehrt waren. Jedenfalls war man sich noch nicht einig geworden, denn es klang zuweilen doch sehr nach Streit. Dann rief eine Eule dicht an Nimmis Ohr, jedenfalls hörte sich das so an. Aber es war die ältere Kriegerin, die den Ruf ausgestoßen hatte. Eine andere "Eule" antwortete vom oberen Stockwerk her, dann wenige geflüsterte Worte, und dann begann der Angriff.
Das gehörte zu den Dingen, die Nimmi später nie richtig beschreiben konnte, denn viele verschiedene Dinge geschahen zur gleichen Zeit. Zwei Frauen schlugen kräftig an die Wirtshaustüre und schrien Goisars Namen. Daraufhin wurde es schlagartig still in dem Raum dahinter. Dann, nach einiger Zeit, wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet, und einer der Kerle steckte den Kopf heraus. Was er sah, waren zwei freundlich lächelnde Frauen in langen Umhängen, die ihn erwartungsvoll ansahen, was ihn dermaßen verblüffte, dass er die Tür aufstieß und sich völlig zeigte.
"Was ist da draußen los? Rede schon, du Idiot!", ließ sich Goisars Stimme vernehmen. Der Mann an der Tür begann zu lachen, und das rief einige der Kumpane herbei, die sich völlig sicher wähnten. "Ja, das ist ja eine Überraschung, es gibt noch mehr Bewerberinnen heute Nacht", rief er. Und damit trat er einen Schritt vor die Tür hinaus, gefolgt von einigen der anderen, die kichernd hinter ihm gestanden hatten.
"Aus dem Weg!!! Was gibt es zu glotzen?" Mit diesen Worten erschien Goisars Gestalt hinter den Räubern, die sich an der Schwelle versammelt hatten. Dann brüllte er: "Narren!!! Zurück!!!", aber das war zu spät, denn die beiden Frauen hatten die Mäntel zurückgeschlagen und es blitzte wie von Stahl auf.
Gleichzeitig gingen zwei Mann zu Boden, jeweils mit einem kurzen gefiederten Pfeil in der Kehle. Noch bevor die übereinander stolpernden Räuber ihren Rückzug angetreten hatten, flog eine Brandfackel in den Schankraum. Die Verwirrung, die ausbrach, kostete die Männer Goisars wertvolle Sekunden und damit wohl auch das Leben, denn die Kriegerinnen taten ihr Werk mit tödlicher Präzision. Plötzlich sahen sich die Verbrecher in die Zange genommen, denn vom hinteren Teil des Raumes drangen weitere Kerenlai mit Langschwertern auf die Männer ein.
Gedeckt wurden auch diese Kämpferinnen durch Bogenschützen, und somit stand es schlecht für Goisars Truppe. Die Brandfackel war sofort ausgetreten worden, hatte aber ihren Zweck erfüllt. Als sich Goisar von seinen gefallenen Kumpanen umringt sah, hörte er nicht auf zu kämpfen. Dieser Mann verfügte über eine gewaltige Lebenskraft, sein Tod kostete vier Kriegerinnen Blut, aber keine das Leben. Und der Streich, der seine Kehle spaltete, wurde von der Anführerin geführt.
Das alles hatte sich sehr schnell abgespielt, aber für Nimmi schien es Stunden zu dauern. Irgendwann sank sie in die Arme ihrer Mutter, die plötzlich mitten im Raum stand, während sich die Mägde um die gefangenen Frauen kümmerten. Diese hatten sich in einer Ecke zusammengekauert, als der Kampf ausgebrochen war. Bis auf einige grobe Behandlungen war ihnen noch nichts geschehen, da sich die Räuber über die Reihenfolge gestritten hatten. Und zur Freude aller saß inmitten der vor Erleichterung schluchzenden Mädchen ein blasser, aber durchaus lebendiger Stalljunge.
Mit dem Arm um ihre Tochter gelegt ging Enkla langsam durch den Raum, bis sie vor der etwa gleichaltrigen Kerenlai stand, die ihr den überbrachten Dolch entgegenstreckte. "Ich war ebenso sehr erfreut, den Dolch der Dachsin zu sehen wie den Überbringer." Dann umarmten sich beide Frauen und Nimmi sah die große Ähnlichkeit zwischen ihnen. Wie sehr sich Enkla auch bemüht haben mochte, so auszusehen wie die Dorfweiber, sie konnte ihre eigentliche Zugehörigkeit nicht wirklich verleugnen.
"Mein Herz freut sich ebenfalls, dich zu sehen, Füchsin", sagte Enkla. "Es ist so lange her, meine Freundin. Wir danken euch sehr, unsere Leute und ich. Was ist es, das wir euch geben könnten außer unserer Freundschaft?" Da lachte die Fuchskriegerin und meinte: "Mach dir keine Gedanken, denn meine Späherinnen werden das Lager dieser Kerle finden, und ich denke, es wird sich für uns lohnen, wenn wir es uns genauer ansehen. Somit werden wir auf unsere Kosten kommen, da mach dir keine Gedanken. Meine Frauen sind nicht schwer verwundet, ihr Spaß an der Sache wird also nicht geschmälert."
Mit gesenktem Kopf war nun auch Sarrelt herangetreten, blass aber wohlauf, und sagte in ruhigem Ton: "Meine Frau hat recht gesprochen, Frau der Kerenlai. Seid versichert, dass ihr immer willkommen seid in unserem Haus, wenn ihr hier durchkommen werdet." Es kostete ihn wahrscheinlich eine ziemliche Anstrengung, aber dennoch sprach er ruhig und bestimmt. Und man konnte von Sarrelt denken, was man wollte – sein Wort hielt er. Die Kriegerin hob die Brauen und meinte: "Es wird meinen Frauen und mit Sicherheit auch mir ganz gut gefallen, wenn wir bei unserem Aufenthalt hier im Tal auf sauberen Strohsäcken schlafen können anstatt auf sauberem Erdboden. Ich danke dir, Sarrelt." Dann lachte sie ihr tiefes Lachen und nickte dem davongehenden Wirt zu.
Etwa zwei Tage später war alles wieder so, wie es gewesen war vor dieser schrecklichen Nacht. Für die über zwanzig Räuber war eine Wegstrecke vom Dorf entfernt eine Grube ausgehoben worden. Die misshandelten Mädchen und Frauen fühlten sich etwas besser, und die Wunden der Kerenlai verheilten gut.
Enkla hatte ihrer Tochter nun endlich die ganze Geschichte erzählt, welche davon handelte, dass eine junge Kriegerin bei einem Kampf verletzt wurde und eben hier im Gasthaus zurückgelassen werden musste. Damals hatte die Mutter Sarrelts noch gelebt, die sich auf die Heilkunst verstand. Die Dachsin hatte sich sehr wohl angesprochen gefühlt von dem schüchternen Werben des jungen Mannes, und als sie weiterziehen wollte, bemerkte die Alte, dass sie schwanger war. Verliebt wie sie war, beschloss die Kriegerin ihr Kind hier auf die Welt zu bringen und nahm den Wirt als ihren Mann.
"Weißt Du, Kind ... er hatte immer Angst, dass ich eines Morgens verschwunden sein würde und mit mir meine Waffen, und vor allem mein Kind. Deshalb war er wohl so hart in gewissen Dingen. Und ich fiel in einen Schlaf über die Jahre, es war immer so viel zu tun, und er hatte es nicht verdient, im Stich gelassen zu werden. Verzeihst du mir?"
Viele Gespräche dieser Art folgten in den nächsten Tagen und verbanden Mutter und Tochter aufs Neue. Als alles wieder seinen geregelten Lauf nahm, verabschiedeten sich die Kerenlai, aber wenn sie wiederkämen in einigen Monaten, würde ihre Truppe um eine Anwärterin verstärkt sein.
"Etwas spät, um mit dem Handwerk zu beginnen, aber wer gesehen hat, wie deine Tochter durch den Wald rannte, weiß, dass sie es nachholen wird. Wenn sie im nächsten Jahr wiederkommt, wird sie vielleicht schon einen Dolch haben, der irgendetwas, das rennt, auf dem Heft trägt." Die Anführerin beendete ihre Rede vom Pferd herunter mit einem dröhnenden Lachen. Dann wendeten die Kerenlai ihre Tiere und verließen das Dorf.
Als Nimmi den Wunsch geäußert hatte, zu den Kerenlai zu gehen, war ihre Mutter sehr stolz gewesen, wenn sie auch etwas weinte – aber in Erstaunen versetzt hatte sie dann doch Sarrelt. Er schenkte ihr nämlich das zweijährige Stutenfohlen, das sie so sehr bewunderte. "Damit du nicht hinterherlaufen musst, wenn sie wiederkommen und dich mitnehmen", hatte er in barschem Tonfall gesagt. Und als er sah, dass Enkla ihn ebenso glücklich anlächelte wie Nimmi, ging er rasch davon, um niemanden sehen zu lassen, wie er errötete.
© Fantasy-Erzählung "Die Geschichte vom Dachs und vom Fuchs" sowie die Zeichnung der "Nimmi": Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Die Zeichnung des Dachses (oben) stammt von Walter Heubach, Lizenz: gemeinfrei.
Archive:
Jahrgänge:
2022 |
2021 |
2020 |
2019 |
2018 |
2017 |
2016 |
2015 |
2014 |
2013 |
2012 |
2011 |
2010 |
2009
Themen:
Neue Bücher |
Autoren gesucht |
Ratgeber |
Sagen & Legenden |
Fantasy Mythologie |
IT & Technik |
Krimi Thriller |
Fachartikel & Essays |
Jugend- & Kinderbücher |
Bedeutung der Tarotkarten |
Bedeutung der Krafttiere
Noch mehr Bücher lesen (Werbung):
Fantasy & Science Fiction
| Krimis & Thriller
| Ratgeber
| Reise & Abenteuer
Sie schreiben anspruchsvolle Romane und Erzählungen? Wir suchen neue Autorinnen und Autoren. Melden Sie sich!
Wenn Sie die Informationen auf diesen Seiten interessant fanden, freuen wir uns über einen Förderbeitrag. Empfehlen Sie uns auch gerne in Ihren Netzwerken. Herzlichen Dank!
Sitemap Impressum Datenschutz RSS Feed