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"Mein graues Paradies" ist eine autobiografische Geschichte, erzählt aus der Perspektive der Autorin Ulla Burges. In beiden Teilen geht es um Störungen und Verstörungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen, um psychischen wie physischen Missbrauch, um die teils verzweifelte Suche nach Verstehen und Verstandenwerden, um die Dynamik innerseelischer Prozesse, um Generationen übergreifende Unfähigkeiten zwischen Eltern und Kindern.
Im ersten Teil ("Wenn Eltern nicht auf Kinder hören") findet ein kleines Stück DDR-Zeitgeschichte seinen Niederschlag. Lena wächst als Einzelkind während der 1950er und 60er Jahre in einem Thüringer Dorf auf. Beide Eltern verhalten sich seltsam. Während sich der meist hilflos-resignierte Vater Lena entzieht, greift die Mutter mit Schlingpflanzenarmen nach der Tochter, die sich gegen die wortgewaltige und angstvoll agierende Mutter zu wehren versucht. So vergehen bis zu Lenas Flucht ins Studium viele Jahre.
Im zweiten Teil ("Inventur der Kümmernisse") ist Hannah, Lenas begabte Tochter, längst erwachsen mit eigenem schwierigen Sohn. Sie ist ihrem Anderssein auf die Spur gekommen innerhalb einer Therapie, in der sie ihren sexuellen Missbrauch in Kindertagen offenlegen konnte. Die Konfrontation damit zwingt Lena zur Selbstreflektion.
Unsere Buchempfehlung: (Werbung) Das Taschenbuch "Mein graues Paradies" umfasst 426 Seiten und ist im Frühjahr 2022 via BoD erschienen. Die Autorin Ulla Burges hat auch eine E-Book-Ausgabe veröffentlicht, die man z.B. als Kindle-Ausgabe erwerben kann.
Meine Eltern wehrten sich nicht. Schicksal, änderten nichts an ihrem Leben. Peter warf mir jetzt das Gleiche vor, ich tat ihm leid, allenfalls, meine Eltern eher nicht, Sklaven ihrer bornierten Gedanken, gingen beide unter, fortwährend am Ertrinken, schlugen das Wasser, vergeudeten ihre Kräfte, schwammen an kein Ufer. Ihre Art zu leben. Es stimmte, ich war jetzt auch am Schlucken, konnte aber von einem Ende ausgehen, meine Eltern nicht. Ihnen schien klar zu sein, dass sie ewig schlucken würden, dazu verdammt, niemals Land zu sehen, das machte sie wütend, intolerant, zerstörte sie.
Mir ging es jetzt nicht gut, nur mein Status war günstiger als ihrer. Ich war jung, gesund, hatte stets das vor Augen, woran ich mich nicht orientieren wollte, hatte diese Zeit noch zu überstehen. Die Alternative, Peters Angebot, war nur theoretisch gut, praktisch undiskutabel, weil unrealisierbar, schon zehn Jahre zuvor hatte ich meine Fluchtpläne verworfen, wegen der Erwachsenen am längeren Hebel, dort saßen sie immer noch, keine Chance für mich. Wäre ich ein Jahr älter gewesen, hätte ich mein formales Recht nach Eigenständigkeit behaupten können, jetzt würden sie noch alles tun, die Ausreißerin zurückzuzerren, zu bestrafen nach ihrem Ermessen. War ich zu bequem? Wer nicht zu kämpfen bereit ist, erreicht nichts? Die Erbanteile meines Vaters? Vielleicht war das so.
Ich stand vor einer Entscheidung, vor der Wahl: Peter – Polizei – Jugendamt – drohender Heimaufenthalt und damit die Gefährdung meiner Zukunft oder weiterhin das, was ich gut kannte und was ich, sicher mehr schlecht als recht, in geringem Umfang beeinflussen konnte: die familiäre Tragikomödie. Und ich wählte das für mich kleinere Übel. Für Peter war so etwas vollkommen neu, er war nicht in der Lage, sich hineinzudenken in die wundgebrüllte und wundgeschwiegene Empfindlichkeit einer dünn gebliebenen Haut, Außenstehender, hatte gut reden, meine Wehrlosigkeit zu belächeln, ererbte Schwäche. Aber wenn Waffen untauglich sind, sollte man nicht mit ihnen kämpfen. Wer weiß, dass er unterliegen wird, sollte keine Schlachten zu schlagen versuchen. Die Zeit war auf meiner Seite, Peter akzeptierte das nicht. Die zwei Jahre bei ihnen würde ich hinter mich bringen wie einen Traum. Erwachen war sicher. Übung zur Besonnenheit, sicher auch zu einer Art kalter Berechnung.
Was Peter allerdings jetzt angerichtet hatte, störte den gleichmäßigen Fluss dieses unangenehmen Traums. Bisher lag es teilweise in meiner Macht, die zähe Trübsal zu beeinflussen, die durch mein Verhalten halbwegs regelbare Palette zwischen allgemeiner Trostlosigkeit und Alptraum, war mir jetzt genommen, verspielte Einflussmöglichkeit innerhalb der häuslichen Grenzen, Peter hatte sie mir genommen, wie ich befürchtet hatte.
Natürlich geschah nichts anderes als in den vergangenen Wochen und Monaten. Ich weiß nicht, in welche Richtung die väterlichen Phantasien liefen hinsichtlich Ahndungsvarianten unerhörter töchterlicher Frechheit. Sein Verbleib im Bett – sollte diese Leidensdemonstration Strafe für mich sein? Oder entsprach sie lediglich seiner eigenen Hilflosigkeit? Er verfiel in eine Art Stupor, kein Tag verging, an dem die Mutter mir nicht die Schuld an seinem so sichtbaren Elend vorwarf. Ich flüchtete ins Tagebuch, Herberge widersprüchlichster Gedanken: Die Eltern haben so viel Angst vor Peters Offenheit, und diese Angst offenbart sich in Wut, Gebrüll, in dummem Gerede – plötzlich tun mir diese Eltern leid, sind von ganz kindlicher Ratlosigkeit und Verwirrung, kein Ausweg, Irrtum können sie nicht zugeben – wenn sie wüssten, dass ich sie doch lieben könnte mit einem einzigen Eingeständnis!
Dieses endgültige Abschiednehmen von der Liebe zu ihnen zog sich sehr in die Länge. Gleichwohl war es notwendig für ein halbwegs gesundes Überleben.
Aus heutiger Sicht war meine Denkweise damals ähnlich angstvoll wie die meiner Eltern. Angstvoll oder feige – ich weiß es nicht. Ich nahm ihre Drohungen ernst, glaubte an ihre Macht, meiner Zukunft mit Heim und Jugendwerkhof schaden zu können und dies auch durchzusetzen im Falle meiner tatsächlich gelebten Widerständigkeit. Meine Zukunft nach ihnen war mir wichtiger als der vorübergehende Alptraum. In den Jugendwerkhof kamen die Schwererziehbaren, die Aufsässigen, diejenigen, bei denen Eltern und Schule versagten, bei denen Hopfen und Malz verloren waren. Anstalten mit massivem Drill, drastischen Strafen, Gewalt und dem Ziel, allen Widerstand zu brechen. Das war damals durchaus bekannt.
Heute meine ich, dass es leere Drohungen waren, Resultat elterlicher absoluter Hilflosigkeit bei gleichzeitigem Gefühl absoluter Berechtigung zu solchem Handeln an mir, da ich in ihren Augen sehr wohl zu Schwererziehbarkeit verkommen war. Ihre Angst war enorm, sich für mich noch weit mehr schämen zu müssen, als sie es ohnehin bereits taten. Sicherlich hätten sie mich gern in irgendeine Einrichtung abgegeben, die Verantwortung abgegeben, womit sie aber die eigene Überforderung hätten zugeben müssen. Und das – in dem Punkt hatte Peter recht – wäre ein Armutszeugnis gewesen, das sie sich in dem Fall selbst ausgestellt hätten.
Heute meine ich weiter, dass, hätten sie mich tatsächlich abgeben wollen, es dazu sicher gar nicht gekommen wäre. Da ich dem Typus der Kandidaten für solch eine Einrichtung nicht im mindesten entsprach. Ich war weder dumm noch lernunwillig, weder renitent noch bösartig. Ich wollte lediglich als junger Mensch akzeptiert werden. Leider gab es niemanden, der meinen Vater von einem anerkannten Standpunkt her hätte informieren können, wie es um normale Jugendliche mit normaler Entwicklung bestellt ist. Möglicherweise wäre er erreichbar gewesen für ein wenig Umdenken. Peter war entscheiden zu jung dafür – und mit einem zu deutlichen Eigeninteresse. Meine Mutter war in ihrer Selbstherrlichkeit unempfänglich für Argumente außerhalb ihrer Sichtweise. ...
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© "Dieses endgültige Abschiednehmen von der Liebe". Textauswahl aus "Mein graues Paradies", eine autobiografische Geschichte von Ulla Burges, mit freundlicher Genehmigung der Autorin, 02/2024.
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