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Dem Roman "Butterfly Garden" wird häufig das Etikett "Psychothriller" angehängt. Warum das für diesen guten Roman der Autorin Dot Hutchison eine schlechte Bezeichnung ist, betrachtet der Lektor und Übersetzer Bernd Wicik in seiner nachfolgenden Rezension der englischen Originalausgabe.
Zuerst kommt ein kleiner Teaser für Leser, die den Roman noch nicht kennen. Im zweiten Teil untersucht Bernd Wicik die handwerklichen Stärken und Schwächen des Romans und seine Etikettierung genauer und spart nicht mit Spoilern. Wer "Butterfly Garden" (deutscher Titel: "Garten der Schmetterlinge") bereits kennt und eine zweite Meinung einholen will, dem sei die Lektüre bis zum Schluss empfohlen.
"I'm only happy when it rains", sang die Rockband Garbage im Jahre 1996. Diese Zeile lässt erahnen, was "Butterfly Garden" ausmacht und hervorhebt. Der Roman ist Alternative, nicht Mainstream, er liebt seine schnodderige Außenseiterheldin Inara über alles und gönnt ihr jeden Monolog. Sie ist tough, kess und trägt das Gewicht der Story auf ihren schmalen Schultern.
Die amerikanischen Schauplätze sind die Absteigen der Underdogs, das Kapital verfängt sich hinter der bürgerlichen Fassade in den Schlingen von Sadismus und Psychopathie. Von einem Psychothriller erwartet der Leser jedoch eine andere Schwerpunktsetzung. Fans von harter und cooler Erzählweise werden nicht bedient, aber wer Edgar Allan Poes schauerliche Geschichten liebt, findet in Dot Hutchison eine Geistes- und Gefühlsverwandte.
Apropos Poe ...
Dreizehnmal nennt Dot Hutchison den Namen des Visionärs aus Boston in "Butterfly Garden". Bizarr ist der Zusammenhang. Die Entführte rezitiert stumm aus Poes Werken, wenn sie vergewaltigt wird, um sich abzulenken. Im Verlauf der Geschichte wird "reciting Poe" zum Euphemismus für Vergewaltigung. Die Autorin macht das nicht, um harte Sprache zu vermeiden. Das Wort "rape" (übersetzt: Vergewaltigung) erscheint 13 Mal, "violated" mit sexuellem Bezug (übersetzt in diesem Fall: vergewaltigt) zweimal. Es ist die Vorliebe für Ambivalenz, die Dot Hutchison so verfahren lässt.
Wo sie Spannung erfolgreich aufbaut, bewirkt Dot Hutchison dies durch Inaras undurchschaubares Verhalten, während sie in einem FBI-Interview nach der Befreiung in vielen Details ihr Martyrium schildert. Der FBI-Agent selbst ist jedoch nur ein Handlanger der Geschichte. Er soll Inara (die eigentlich Samira heißt) lediglich dabei assistieren, sich in all ihren Facetten zu entfalten. Spannung entsteht durch die Ungewissheit, was Inara/Samira alles zuzutrauen ist und was sie getan hat. Ihr ausschweifendes Erzählen verzögert die Gewissheit über ihr Schicksal Seite um Seite, Todesfall um Todesfall ... Im Schmetterlingsgarten werden die entführten Frauen normalerweise nur 21 Jahre alt.
Edgar Allan Poe war ein Meister der vorbereiteten Überraschung, Dot Hutchison ist es nicht. Warum fehlt ein "leider" im zweiten Halbsatz?
– Begründung 1: Bei "Butterfly Garden" ist die Außenhandlung zweitrangig, die Innenhandlung zählt und punktet.
– Begründung 2: Die Pointe dieses Romans ist nicht an dem Punkt gesetzt, an dem die Handlung emotional erlebbar ist.
Inara hat zum Zeitpunkt der Enthüllung längst erzählt, was im Schmetterlingsgarten passiert ist, die Neugierde des Lesers ist befriedigt. Inhalt der Pointe: Eine Mitbewohnerin von Inara/Samira ist vor vielen Jahren ebenfalls entführt worden. Der FBI-Agent vermutet nun, Inara/Samira hätte sich absichtlich entführen lassen, um den Schmetterlingsgarten zu befreien. Das ist aber nicht nur emotional irrelevant für den Leser, sondern auch für die Geschichte.
Ein ähnliches Beispiel liefert "Lolita" von Vladimir Nabokov. Der Erzähler deutet früh einen Mord an und spielt viele Seiten später mit der Erwartungshaltung des Lesers, er würde Lolita (die eigentlich Dolores heißt) beim Wiedersehen töten. Bei Nabokov ist es ein Bluff, der aber zumindest im Ablauf der Erzählung verankert ist. Bei Dot Hutchison entsteht der Eindruck, sie würde mit der Pointe eine Konvention als lästige Pflichtübung absolvieren, ohne selbst Wert darauf zu legen.
Ein Fetisch des Romans ist die Ästhetisierung, zumeist im Zusammenhang mit den Tattoos. Jede entführte Frau bekommt ein Schmetterlingsmotiv auf den Rücken gestochen. Immer wieder beschreibt Dot Hutchison diese Tätowierungen. Das Wort "color" erscheint 34 Mal, "tattoo" 37 Mal. Die Farbadjektive werden angeführt von "black" (54 Zähler), dann kommen "blue" und "red" mit jeweils 20. Andere erscheinen seltener. Der Roman ist dadurch in Schwarz getaucht. Regelmäßig greift Dot Hutchison aber in den Farbkasten und malt kontrastierende Farbkleckse, als wäre der Roman selbst ein Paar Schmetterlingsflügel. Satte 85 Mal taucht das Wort "wing" (übersetzt: Flügel) auf. Für die erste Beschreibung ihres eigenen Tattoos verwendet Inara 171 Wörter, es ist eine Liebeserklärung an ein Kunstwerk des Schmerzes. Wieder schlägt die Ambivalenz zu.
Ihr "Butterfly Garden" wirkt wie ein Fantasyroman, dem das Übernatürliche und Phantastische fehlt. Hätte er diese Elemente, wäre der Roman ein Fall von Dark Fantasy und könnte sich marketingtechnisch an einer vordefinierten Zielgruppe erfreuen. Für den Horrormarkt ist er unbrauchbar, weil es an Härte fehlt. Wer sich als Leser an den vielen ästhetischen Stärken des Romans erfreut, kann seine unleugbaren erzählerischen Schwächen verschmerzen. Ein atmosphärischer Roman für unvoreingenommene Leser mit Freude an Außenseiter- und Schauergeschichten, aber nicht für jeden Krimi- und Psychothrillerfan. Dazu ist das menschliche Monster der Geschichte in Gestalt des Gärtners zu uncharismatisch, der FBI-Agent zu passiv. Inara stiehlt niemand die Show.
Die englische Originalausgabe der Autorin Dot Hutchison wurde im Juni 2016 via Thomas & Mercer publiziert (ISBN 978-1503934719). "Butterfly Garden" bietet als Paperback 286 Leseseiten.
Die Taschenbuch-Ausgabe des deutschen Titels "Garten der Schmetterlinge" umfasst 348 Seiten und wurde im Spätsommer 2016 im Verlag Edition M veröffentlicht (ISBN 978-1503940987; deutsche Übersetzung von Peter Groth).
Beide Ausgaben sind als E-Book im Online-Buchhandel erhältlich, in englischer Sprache auch als Audible-Hörbuch.
© "Die farbenfrohe Zerrissenheit im Schmetterlingsgarten": Eine Rezension des Lektors und Übersetzers Bernd Wicik, 06/2020. Abbildungen der Buchcover: Amazon.de.
Weitere Rezensionen von Bernd Wicik: "Der Kruzifix-Killer" (Psychothriller von Chris Carter) | "Cold Silence" (Thriller von Danielle Girard)
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