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"All In Her Head" ist das Debüt der englischen Schriftstellerin Nikki Smith. Auf der Website des Verlags wird von einem Thriller gesprochen. Welche literarische Qualität der Roman aufweist und in welchem Maße er als Thriller funktioniert, schlüsselt Bernd Wicik nachfolgend auf.
"All In Her Head" ist die Geschichte von Alison. Sie hat eine toxische Ehe mit Jack, der in der Angst lebt, ein Frauenschläger wie sein Vater zu werden. Alison selbst leidet unter dem Trauma, den Suizid ihrer Mutter erlebt zu haben. Als sie selbst Mutter wird, gleitet sie in eine Psychose ab und versucht sich das Leben zu nehmen. Es misslingt. Sie wird in einer Klinik behandelt, wo sie die Erinnerung an den Suizidversuch erst ein Jahr nach der Tat zulässt.
Erzählt ist diese Handlung als Puzzle mit Zeitversatz, im ständigen Wechsel zwischen der Sicht von Alison und Jack. Die subjektive Erzählweise passt sich der Wahnstörung an. Der Roman ist von Anfang bis Ende im Präsens geschrieben.
Wer als Debütant im Jahr 2020 einen Psychothriller in einem relevanten Publikumsverlag veröffentlichen will, hat eine quantitative Hürde zu überwinden. Etwa 80.000 Wörter beträgt die Genrekonvention unserer Tage. Darunter hat kein Neuling eine Chance, nur Genregrößen können Novellas und Kurzgeschichtensammlungen in die Regale bringen. Was das für "All In Her Head" bedeutet?
Dieser Roman ist überdehnt und außer Balance, wenn man ihn als Spannungsroman rezensiert – und als Thriller bewirbt ihn der Verlag. Die Handlung reicht nicht, um spannend und flüssig über die vorgegebene Romanlänge zu erzählen. Vor allem die erste Hälfte des Werks (Part One) hätte gekürzt werden müssen. Der nachfolgende Teil (Part Two) ist flott und spannend erzählt, das Präsens spielt seine Stärken aus. Part Three hingegen beherbergt mit etwa 20 Prozent Nachbereitung (nach Showdown, dramatischem Finale ...) doppelt so viel Handlung, wie es in einem modernen Spannungsroman üblich ist. Nikki Smith hängt so sehr an ihren Figuren, am Thema Mutterschaft und so wenig am Genre Psychothriller, dass sie ihre Figuren langatmig bis zum realitätsverleugnenden Happy End geleitet.
Der Ansatz dieses Thrillers ist es, das Psychothriller-Subgenre Domestic Noir mit seiner häuslichen Gewalt durch eine Pointe zu bereichern. Folglich erzählt die Schriftstellerin so, als wäre Jack ein Gewalttäter; der männliche Teil einer Beziehung ist im Domestic Noir häufig der Ursprung der Gewalt. Allerdings ist diese Darstellung eine psychotische Verzerrung. Sie basiert auf einer Ohrfeige, die der überforderte Jack seiner Frau auf dem Weg ins Krankenhaus gibt, nachdem sie sich mit einer Rasierklinge verletzt hat. Die Geheimnistuerei um diese Tat (und eine Zahlung Jacks an seinen erpresserischen Vater) füllt die erste Hälfte des Romans. Das ist erstens überzogen. Und zweitens sind Pointen effektiver, wenn sie eine harmlose Situation als bösartig entlarven. Pointen mit umgekehrter Wendung wirken wie Bluffs und sind für Thriller bedingt brauchbar, auf keinen Fall funktionieren sie mit so viel Überdehnung wie hier. Ein seltener Fall von gelungener Wendung hin zur Harmlosigkeit in einem Thriller findet sich in der Netflix-Serie "Young Wallander". Die erste Staffel endet mit einigen Momenten, in denen der Zuschauer eine Attacke von Gangmitgliedern und eine Bombe erwartet. Beides trifft nicht ein. Die Serie spielt hervorragend mit der Erwartungshaltung, weil alle Folgen zuvor mit Unheil geendet haben. Nikki Smith hingegen überreizt ihr Blatt ohne jedes Feingefühl für die Leserlenkung.
Die andere Baustelle ist die Darstellung des Wahns. In Part One erzählt Alison von einem Leben in einer Bibliothek. Immer wieder trifft sie Sarah. Diese ist in Wahrheit ihre Psychiaterin, die Bibliothek gehört zu einem psychiatrischen Krankenhaus. Das ist exakt die Vermengung von Wahn und Realität, wie sie einige Jahre zuvor Dennis Lehane in "Shutter Island" (siehe hier unsere Rezension) eingesetzt hat: Patient unter Medikamenteneinfluss, Psychiater erscheint als Wahnfigur. Das ist vorhersehbar für Genrefans. Wenn man ein Handlungsmuster eines Bestsellers kopiert, muss man das mit origineller Variation tun.
Für Gelegenheitsleser des Psychothrillers mag dieser Roman funktionieren. Sie werden sich nicht an den strukturellen Schwächen und der unoriginellen Pointierung stören. Nikki Smith liebt ihre Familiengeschichte mehr als das Genre Psychothriller, sie interessiert die dunkle Vision einer nachgeburtlichen Psychose mehr als der Thrill. Hätte die Autorin nur den Mut gehabt, einen Kurzroman zu schreiben und die Wahl zwischen Psychothriller und Familiendrama zu treffen.
Rezensiert wurde die englisch-sprachige Ausgabe "All In Her Head" als E-Book, herausgegeben von The Orion Publishing Group Ltd im April 2020. Den Thriller gibt es auch als Paperback (ISBN 978-1409192992, 352 Seiten), Hardcover Edition (ISBN 978-1409192978, 336 Seiten) sowie als Audio Book (Spieldauer: 9 Stunden und 17 Minuten, gelesen von Helen Keeley). In Deutsch ist das Buch von Nikki Smith (bisher) nicht erschienen.
© "Ein Psychothriller, der mit seinem Genre fremdelt": Die Buchbesprechung zu "All In Her Head" wurde verfasst vom Übersetzer Bernd Wicik, 11/2020. © Abbildung des Buchcovers: Orion Books.
Lesen Sie weiterhin diese Buchbesprechungen zu Robert Blochs Meilenstein "Psycho" und "Butterfly Garden", ein Roman der Autorin Dot Hutchison
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