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Gillian Flynns Roman "Cry Baby – Scharfe Schnitte" ist ein Psychothriller, der im Mittleren Westen der USA spielt. Die Autorin zählt zu den bekanntesten und meistverkauften ihres Genres. Inwiefern das auf Qualität beruht, klärt Bernd Wicik in der folgenden Rezension.
"Cry Baby – Scharfe Schnitte" ist die Geschichte von Camille Preaker, einer mittelmäßigen Reporterin aus Chicago und einem zerbrechlichen Wesen mit Hang zur Selbstverletzung. Ihr Chefredakteur schickt sie in den südöstlichsten Zipfel von Missouri, aus ihrer Heimatstadt Wind Gap soll sie über Morde berichten. Dieser Job konfrontiert sie mit ihrer eigenen Vergangenheit und der Verkommenheit ihrer Familie. Wie sie investigiert, leidet, eine Schwester findet und verliert, all das ist spannend erzählt, mit literarischen Mitteln gestaltet und auf einem Niveau angesiedelt, das selbst hohe Erwartungen erfüllt.
Genug geteasert, jetzt wird gespoilert. Wer "Cry Baby – Scharfe Schnitte" noch nicht gelesen hat, sollte jetzt zugreifen. Übrigens ist der Roman auch für die empfehlenswert, die bereits die Serie "Sharp Objects" von HBO gesehen haben.
Gillian Flynn wird das Label Domestic Noir zugeordnet. Manche begreifen Domestic Noir als Subgenre des Psychothrillers, andere definieren die Richtung als eigenständiges Genre. Grundsätzlich ist Domestic Noir lediglich eine Variante des Psychothrillers, bei der die Täter aus dem näheren, zumeist häuslichen Umfeld kommen. Dieser Roman entspricht dieser Definition, enthält aber ebenso die charakteristischen Merkmale des Serienkillerromans. Domestic Noir profitiert von vertieften Charakterisierungen. Vielleicht fällt Autoren das Abtauchen in die Abgründe leichter, wenn die eigene Kindheit erwacht und Elternfiguren rückblickend wieder bedrohlich werden.
Keine Zeile ist beliebig, alles gehört zusammen und verschmilzt. Das sind Kriterien für anspruchsvolle Literatur, sie lassen sich als Verdichtung zusammenfassen. Gillian Flynn hat diese Prinzipien verinnerlicht. Folglich hat alles, was in diesem Roman passiert, einen doppelten Boden. Camilles Mutter Adora und Schwester Amma zeigen seltsames Verhalten, das erst am Schluss verständlich wird. Und dieses Verständnis umfasst alles, was geschehen ist, jedes Stirnrunzeln und jede Gesprächsablenkung.
Ein Paradebeispiel für Verdichtung ist die Beschreibung des Elternhauses, die die Ich-Erzählerin im zweiten Kapitel liefert. Das viktorianische Haus wird ausufernd als Produkt von Verklemmtheit und Verlogenheit skizziert und erweist sich als die Brutstätte für Camilles familiäres Elend. So geht Verdichtung als Stilmittel der Bildsprache. Diese Beschreibung ist eine Schlüsselstelle des Romans.
Das Stilmittel der Bildsprache nimmt zudem breiten Raum bei der Emotionalisierung ein. Camille trägt unzählige Narben von eingeritzten Wörtern in der Haut. Wenn sie unsicher, ängstlich oder in anderer Weise emotional reagiert, lässt sie ihre Narben sprechen. Eine poetische Variante, ambivalent und ästhetisch, ein Kontrastmittel zur ansonsten harschen Realität von gefühlskaltem Elternhaus, systemischer Kleinstadtspießigkeit und dem Gestank der elterlichen Schweinefarm.
Erfolgt im Doppelpack. Zuerst wird Camilles Mutter für die aktuellen Morde verhaftet, dann Amma. Die Mutter bleibt aber schuldig an dem lang zurückliegenden Tod von Camilles und Ammas Schwester Marian. Die Pointierung in "Cry Baby – Scharfe Schnitte" wirkt beiläufig, nicht auf Schreckmomente hin gearbeitet, sondern auf die Erklärungen: eine notwendige Katharsis. Das kontrastiert den Roman mit der Serie, deren Ende abrupt, schreckhaft und versteckt erklärt abläuft. Beide Varianten wirken hervorragend in ihrem jeweiligen Medium.
"Cry Baby – Scharfe Schnitte" ist der Roman eines Ausnahmetalents. Gillian Flynn nimmt bekannte Stereotypen und lässt sie in neuem Gewand erstrahlen, komponiert kunstvoll in bescheidener Weise, fesselt und fasziniert. Wer nur einmal im Jahr einen Psychothriller in die Hand nimmt, der sollte diesem Roman den Vorzug geben. Wer einen Thriller für seinen Fortgeschrittenen-Kurs in Creative Writing sucht, sollte "Cry Baby – Scharfe Schnitte" mehrfach lesen und als Vorzeigematerial nutzen. Gillian Flynn spielt in ihrer eigenen Liga.
Rezensiert wurde die deutschsprachige Ausgabe "Cry Baby – Scharfe Schnitte", die im Mai 2015 im Verlag FISCHER Taschenbuch, Frankfurt am Main, erschienen ist. Die deutsche Taschenbuch-Ausgabe von Gillian Flynn umfasst 336 Seiten (ISBN 978-3596032020). Ihr Psychothriller ist auch als E-Book oder Hörbuch (Spieldauer fast neun Stunden) im Online-Buchhandel erhältlich.
© "Ein Serienkillerroman als Familiengeschichte": Die Rezension zum Psychothriller von Gillian Flynn wurde verfasst vom Übersetzer und Lektor Bernd Wicik, 10/2020. © Abbildung des Buchcovers: Verlag FISCHER Taschenbuch.
Lesen Sie von Bernd Wicik auch diese Rezensionen: "Blut: Der Vampirkiller von Wisconsin" (Thriller von Robert W. Walker) | "The Ice Twins" (Psychothriller von S. K. Tremayne)
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