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"Cold Silence" von Danielle Girard ist ein Thriller, der von Amazon als "Psychothriller" beworben wird, genau genommen als "A Chilling Psychological Thriller". In dem Buch der US-amerikanischen Autorin geht es um Entführung und Rache. Der Sohn der untergetauchten FBI-Agentin Megan wird vermisst, und sie glaubt zu wissen, wer der Entführer ist ...
Danielle Girard ist bemüht, einen guten kommerziellen Thriller vorzulegen. Über weite Strecken des Romans gelingt ihr das. Wer demnächst länger im ICE sitzen wird oder sonst wo Wartezeit zu bewältigen hat, kann "Cold Silence" eine Chance geben. Allerdings ist "Cold Silence" konsequent auf Unterhaltung hin gearbeitet, literarische Feingeister suchen vergeblich nach einzigartigen Metaphern, enthüllenden Milieustudien und hintersinnigen Handlungsverläufen.
Der Lektor und Übersetzer Bernd Wicik betrachtet "Cold Silence" in seiner nachfolgenden Rezension unter einigen Fragestellungen. Wer Lust auf den Roman hat, möge ihn zuerst lesen, denn spoilerfrei ist nun vorbei.
Ein Psychothriller zeichnet sich durch bestimmte Handlungselemente aus. Verbrechen ist durch psychische Abnormität motiviert. Die psychologische Sicht von Fachleuten wird erörtert. All das fehlt aber in "Cold Silence". Allerdings ist der Roman emotional bis überdramatisiert erzählt, sodass ein Kriterium des Psychothrillers erfüllt ist.
Thriller und Psychothriller sind beides Varianten des Spannungsliteratur. Eine Handlung wie die Entführung eines Kindes ist bei ernsthafter Schilderung des Geschehens sowohl für einen Thriller wie einen Psychothriller zu gebrauchen. Es kommt lediglich darauf an, wie die Story erzählt wird. Danielle Girard legt den Schwerpunkt auf detektivische Arbeit, nicht psychologische. "Cold Silence" enthält also Züge eines Psychothrillers, ist aber definitiv vor allem ein Thriller.
Die Exposition des Romans zeigt, wie nah die Autorin an ihren Figuren ist. Spannend erzählt sie und gibt immer nur ein wenig Information zum Hintergrund, um die Handlung auf Trab zu halten. Im mittleren Teil des Romans vernachlässigt sie diese Tugend. Vor allem die Agentin Mei und der Ex-Marine Colonel Turner werden plump eingeführt, das Geschehen stockt. Sobald aber die Befreiung des achtjährigen Ryan ansteht, gibt es nur noch Handlung, Handlung, Handlung. Bis auf ...
Agentin Mei sitzt im Flugzeug und ist zusammen mit ihrem Kollegen Andy auf dem Weg, den entführten Jungen zu retten. Es geht um Leben und Tod von Ryan. Anstatt diesen Abschnitt kurz zu gestalten und die Spannung am Leben zu erhalten, lässt Danielle Girard Andy und Mei flirten, als wäre es eine Szene aus einer Collegekomödie. Ein guter Lektor hätte an diesem Punkt die Stirn gerunzelt, die Arme verschränkt und "So nicht" gemurmelt ...
Die Figuren des Romans funktionieren wie die der Trivialliteratur. Die untergetauchte Agentin Megan kennt nur das wundervolle Leben der Familie und die Schrecken des Lebens auf der Flucht. Grautöne interessieren Danielle Girard nicht. Die russischen Mafiagangster wirken wie Abziehbilder. In der Trivialliteratur reicht das, im kommerziellen Thriller ist das eine Gratwanderung.
Ein beliebtes Stilmittel von Danielle Girard ist das retardierende Moment. Es gibt nichts, was sie nicht noch hinauszögern könnte. Leser mit erhöhter Neugierde seien vorgewarnt! Immer gelungen ist das ohnehin nicht. Die Inaugenscheinnahme eines toten Jungen, der Ryan sein könnte, wird spürbar künstlich verzögert.
Ist "Cold Silence" überkonstruiert? Immerhin wird der Sohn einer Agentin entführt, die auf der Flucht vor der Mafia lebt. Das schmeckt nach Reißbrett. Allerdings sollte jeder, der diese Kritik äußert, nicht das Wesen eines Unterhaltungsromans aus dem Blick verlieren. Leser kennen die üblichen Plots, und Autoren sind gezwungen, immer neu zu variieren. Ein lebendiges Genre wie der Thriller, der ständig konsumiert und reproduziert wird, ist für das Entwicklungsphänomen der Überkonstruktion anfällig. Wer als Autor nicht überkonstruiert, der langweilt. Solange Autoren es mit Pfiff und Einfallsreichtum tun, sollten Kritiker vorsichtig mit dem Vorwurf der Überkonstruktion sein. Kurzum, die Überfrage ist mit einem eindeutigen "Ja, aber ..." zu beantworten.
"Cold Silence" will nicht künstlerisch sein, eine Fundamentalkritik an Unterhaltungsliteratur verbietet sich. Komplexere Charaktere und weniger trivial anmutende Kontrastierung sind aber auch im Bereich des Thrillers möglich und erfreuen anspruchsvolle Leser.
Erzählerisch ist die Autorin weitgehend konsequent, es gibt nur Defizite bei strenger Betrachtung. Was sie weniger gut macht, macht sie zumindest an Stellen, an denen es weniger schmerzt. Die Flugzeugszene als abschreckendes Beispiel ausgenommen ... Wer Creative Writing unterrichtet und beim Spannungsaufbau Negativbeispiele mit erhobenem Zeigefinger listen will, dem sei die Flugzeugszene durchaus empfohlen.
Der Thriller von Danielle Girard ist für Leser, die viele spannende Romane lesen. Wer nur gelegentlich liest, das Besondere sucht und anspruchsvoll auf vielen Ebenen ist, wird bei "Cold Silence" nicht glücklich.
Hinweise: Gelesen und rezensiert wurde die Kindle-Ausgabe der English Edition von "Cold Silence: A Chilling Psychological Thriller", die im März 2015 herausgegeben wurde (ASIN B00V98EZCQ).
Weitere englisch-sprachige Ausgaben dieses Titels (veröffentlicht im Herbst 2019): Als gebundenes Buch umfasst der Thriller von Danielle Girard 312 Seiten (ISBN 978-1733140485), als Paperback 404 Seiten (ISBN 978-0996308939), und das Audible-Hörbuch weist eine Spieldauer von 9 Stunden und 48 Minuten auf (ASIN B07WHJN9D5).
Auf Deutsch wurde dieser Roman bislang nicht veröffentlicht.
© "Ein Roman für das Reisegepäck": Eine Rezension des Lektors und Übersetzers Bernd Wicik, 07/2020. Abbildung des Buchcovers: Amazon.de.
Weitere Rezensionen von Bernd Wicik: "Butterfly Garden" (Ein Dot Hutchison Roman) | "Der Kruzifix-Killer" (Psychothriller von Chris Carter)
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